Theorie tl;dr: Über Verfremdung und Entfremdung

Too long; didn’t read: Texte aus Drehbuch-, Film- und Welttheorie, kurz, knapp, bündig zusammengefasst und auf ihren Wert fürs filmschreiben hin geprüft. Heute aus dem Kleinen Organon für das Theater von Bertolt Brecht.

In 140 Zeichen (Was ist das?):

#Brecht: Geschichten erzählen Gesellschaft. Schon Erzählformen sagen Unterschiedliches über Gesellschaft, damit auch über die des Zuschauers — Arno (@filmschreiben) 14. Januar 2015

In 50 Worten (Was ist das?): Die Aufgabe des epischen Erzählers ist nicht die Illusion, sondern das Wunder. Das Wundern des Zuschauers, die kritische Auseinandersetzung mit dem Stoff. So weit, so gut und bekannt. Episches Erzählen ist politisches Erzählen, und hat bei allem Vergnügen (jedoch niemals ohne) seinen moralischen Einfluss auf Zuschauer und Gesellschaft zu berücksichtigen.

Die Erkenntnis: Wenn Brecht problematisiert, dass die Geschichte des an der Gesellschaft scheiternden, tragischen Helden erzählt, die Gesellschaft ließe sich nicht ändern, muss uns das erst einmal fremd sein. Unsere heutigen Geschichten sind doch eher selten tragisch, unsere Happy Endings entstehen oft genug aus der späten, aber richtigen, liberalen Erkenntnis der betreffenden Gesellschaft, bzw. der Vertreter dieser Gesellschaft. Selbst ein so dystopisch anmutender Stoff wie The Dark Knight Rises findet zu solch einem Ende.

Auch die Befürchtung, die bei Brecht vielleicht hinter dieser Aussage steht, nämlich dass eine Geschichte, die erzählt, Gesellschaft ließe sich nicht ändern den Zuschauer mit eben diesem Glauben, dass die Gesellschaft nicht zu ändern sei, entlässt, wirkt heute falsch. Während Geschichten, in denen die Gesellschaft moralisch verändert werden kann, eher ein Gefühl von „Na, dann ist ja alles gut (mit uns)“ hinterlassen, ist der bleibende Eindruck von Geschichten, in denen jemand an der Gesellschaft scheitert, ein „So weit darf es mit uns niemals kommen.“ Oder?

Dennoch sollten wir uns als Autoren immer hinterfragen, was wir mit unserer Geschichte gerade erzählen. Wohin führt die Charakterentwicklung unserer Figur, warum, und was sagt das über uns und unsere Gesellschaft aus. Denn die Charakterentwicklung ist es, die die Botschaft unserer Erzählung enthält. Diese Charakterentwicklung ist oft eine Art Selbstfindung der Figur, von der Entfremdung von sich selbst hin zu einer Integration in sich selbst: Happy End.

Doch diese Begriffe, „Entfremdung“ und „Integration“ sollten uns alarmieren, denn wenn wir nicht aufpassen erzählen wir eine Charakterentwicklung von der Entfremdung einer Figur von der Gesellschaft hin zu einer Integration der Figur in die Gesellschaft, und das als Happy End. Und das kann selten richtig sein, denn welchen Wert soll eine Gesellschaft haben, die sich nicht aus ihren Mitgliedern heraus, um ihre Mitglieder herum bildet, sondern in die sich ihre Mitglieder erst einfügen, der sich ihre Mitglieder erst fügen müssen. Und ja, wenn ich so darüber nachdenke, das meine ich auch gesellschaftspolitisch.

Das Zitat:

Die historischen Bedingungen darf man freilich nicht denken als dunkle Mächte, sondern sie sind von Menschen geschaffen und aufrechterhalten: was eben da gehandelt wird, macht sie aus.

Von besonderem Interesse ist natürlich all das, was wir von Brecht über das epische Erzählen lernen können. Eine Bedingung scheint die Nutzung von mehr als einem Protagonisten zu sein, denn erst dann würde nicht ein persönliches Drama, sondern ein gesellschaftlicher, politischer Epos erzählt. Da es bei der Betrachtung um eine Art distanzierte, reflektierte, wissenschaftliche Beobachtung geht, werden mehrere Versuchsgruppen (Protagonisten) vergleichend untersucht. Das bedeutet vielleicht, das Szenen nicht wie gewohnt durch Kausalität verbunden werden, sondern durch Parallelität. Statt mit „Und dann…“ oder besser „Und deswegen…“ zu erzählen, erzählt der Epos vielleicht mit „So wie bei…“. Brecht:

Da das Publikum ja nicht eingeladen werde, sich in die Fabel wie in einem Fluss zu werfen, um sich hierhin und dorthin unbestimmt treiben zu lassen, müssen die einzelnen Geschehnisse so verknüpft sein, dass die Knoten auffällig werden. Die Geschehnisse dürfen sich nicht unmerklich folgen, sondern man muss mit dem Urteil dazwischen kommen können. Die Teile der Fabel sind also sorgfältig gegeneinander zu setzen, indem ihnen ihre eigene Struktur, eines Stückchens im Stück gegeben wird.

Gutes Schlusswort:

So heißt unparteiisch für die Kunst nur: zur herrschenden Partei gehören.

Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. (Kann hier bei dem etwas dubiosen Portal litde.com eingesehen werden (Kennt das jemand? Weiß jemand mehr darüber?).

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