Filmdramaturgie kann sehr wertvoll für den Journalismus sein. Ein Beweis: Die Reportage »Schlechtes Versteck« von Lena Niethammer, die letzte Woche für den Alternativen Medienpreis nominiert wurde. Das Besondere: Die Parallelerzählung, die Flashback-Struktur, ganz wie in vielen großartigen (nicht-deutschen) Filmen des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Wobei diese Zeitangabe nicht ganz stimmt: Es ist bloß Hinweis auf das Buch, in dem Schriftstellerin Linda Aronson die Parallelerzählung beschreibt, The 21st Century Screenplay. Viele der untersuchten Filme fallen ins zwanzigste Jahrhundert, werden aber erst zum Ende des letzten Jahrhunderts immer häufiger: Citizen Kane (1941), Annie Hall (1977), Amadeus (1984), Cinema Paradiso (1988), Pulp Fiction (1994), Die üblichen Verdächtigen (1995), Der englische Patient (1996), American Beauty (1999), Memento (2000). Später Filme wie Vergiss mein nicht! (2004), Babel (2006), und Slumdog Millionär (2008).
Yeah! Nominiert! https://t.co/qnKirLHAYk — Lena Niethammer (@Lena_Niethammer) 19. April 2016
Zurück zum Artikel. »Schlechtes Versteck« ist eine Reportage über Milan Martens, begeistert und erfolgreich in seinem quasi fast einzigartigen Job, der Zeuge eines Verbrechens wird, aussagen will, ins deutsche Zeugenschutzprogramm kommt, dabei sein altes Leben verliert und von den Zeugenschützern kein neues zurückbekommt. Das ist die eine Hälfte der Geschichte, die andere: Milan Martens hat alles verloren, was ihm wichtig war, hört Stimmen, droht der Staatsanwaltschaft mit einem Amoklauf, wenn er nicht zumindest wieder in seinem Beruf arbeiten darf. Die lässt ihn festnehmen, in einer Psychiatrie wird eine Psychose diagnostiziert: und das Zeugenschutzprogramm sei bloß Teil seiner Wahnvorstellungen.
Wow. Dieser Tiefpunkt der zweiten Hälfte der Geschichte rührt an tiefsten Ängsten in uns: Der Angst des Ich-Verlusts. Was gibt es für größere Zweifel an uns, ob durch Fremde oder sogar durch uns selbst, als Zweifel, dass unsere Erfahrungen und Erinnerungen, die uns prägen und Entscheidungen treffen lassen echt sind. Das sind Zweifel, ob unsere Persönlichkeit echt ist, ob wir echt sind. Schizophrenie ist Horror, ein Horror, der hier ganz alltäglich daher kommt und uns mit Milan Martens in die Ohnmacht zwingt. Eine Diagnose zu bestreiten, deren Symptom das Bestreiten der Diagnose ist: Unmöglich. Ein, nein gleich zwei Leben zu beweisen, die nicht existieren, das eine nicht mehr, das andere noch nie: Wie denn?
Es ist die Aufgabe von Dramaturgie, Geschichten stark zu machen.
Diese Geschichte wirkt, sie ist stark, aber diese Geschichte ist auch lang: Es ist ja gar nicht eine, es sind zwei Geschichten. Die Geschichte eines Zeugen mit viel zu großem dritten Akt. Oder die Geschichte eines Verzweifelten mit viel zu großer Backstory im ersten Akt. Zwei Geschichten, die nur gemeinsam stark sind. Wer wüsste damit umzugehen? Lena Niethammer offenbar. Und Linda Aronson, die Schriftstellerin, die auch über Dramaturgie schreibt. Und ich, der ich hier Aronson auf Niethammer anwende. Und ihr, wenn ihr weiterlest.
Es ist die Aufgabe von Dramaturgie, Geschichten stark zu machen. Es muss also eine Dramaturgie geben, die beide Geschichten zusammen wirken lässt, sonst würde sie sie ja schwächen. Und diese Dramaturgie gibt es: Parallelerzählungen. Geschichten, in denen mehrere Erzählungen zusammenwirken, ob Erzählungen mehrerer Protagonisten oder Erzählungen eines Protagonisten in mehreren Zeitebenen, oder beides. Wir brauchen zwei verschiedene Zeitebenen: Den Flashback-Narrative. Über mögliche mehrere Protagonisten werden wir noch kurz mit Aronson nachdenken.
Das Wort »Amoklauf« fällt ihm ein. Es klingt gut, es klingt bedrohlich. Milan Martens sitzt am Abend des 25. Juli 2014 in einem Internetcafé und überfliegt seine E-Mail ein letztes Mal. Er denkt an die Jahre, die er gelitten hat; an die Versprechen, die nie eingehalten wurden. Er denkt, dass er doch nicht viel verlangt, nur einen Job, mehr nicht. Er fühlt sich ausgenutzt und fallengelassen. Die haben das verdient, denkt er, und schreibt das Wort in den Betreff: Amoklauf. Dann drückt er auf »Senden«.
Nach dem Vorspann des Artikels steigt Lena Niethammer mit diesen Sätzen ein. Präsens, ein Protagonist, ein Schauplatz, eine Tageszeit: Szenischer kann ein journalistischer Artikel kaum sein. Und es ist auch die Szene, mit der unser Flashback-Narrative-Film beginnen würde: Ob Niethammer das bewusst oder intuitiv getan hat, ob sie tatsächlich Filmdramaturgie und Aronson kennt oder es im journalistischen Bereich vielleicht sogar ähnliche dramaturgische Modelle gibt, ganz egal: Alles richtig gemacht. Großartig! Warum?
In diesem Punkt finden unsere beiden Geschichten zusammen: Milan Martens Entscheidung, diese Mail zu verschicken ist der zweite Wendepunkt der ersten Geschichte, und der erste Wendepunkt der zweiten. Er leitet den dritten Akt der ersten Geschichte und den zweiten Akt der zweiten Geschichte ein. Das klingt komplexer als es ist. In unserer Parallel-Erzählung ist der zweite Wendepunkt der Geschichte in der Vergangenheit der erste Wendepunkt der Geschichte in der Gegenwart. Und welche von beiden Geschichten in der Gegenwart spielt, wurde mit dieser Szene ja gesetzt. Von dieser Gegenwart aus, werden wir die Vergangenheit erzählen.
Zweiter Wendepunkt in der Vergangenheit: Erster Wendepunkt in der Gegenwart
Milan Martens hat sich für eine Aussage und eine Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm entschieden: Erster Wendepunkt im Vergangenheitsstrang. Das hat ihn sein altes Leben und seinen Job gekostet. Die Zeugenschützer lassen ihn nicht wieder darin arbeiten, die Szene sei zu klein, man würde ihn identifizieren. Nachdem er im Lauf der Handlung des zweiten Akts des Vergangenheitsstrangs alles verloren hat, hofft er nur noch auf eine – falsche – Möglichkeit, das Leben, das er sich vorstellt zu retten: Er entscheidet sich, die Staatsanwaltschaft mit dieser Mail zu erpressen: Zweiter Wendepunkt im Vergangenheitsstrang.
Milan Martens hat alles verloren. Das, was wir im Vergangenheitsstrang noch als Tiefpunkt begriffen haben ist für ihn jetzt vielmehr Erregendes Moment: Anlass, zu handeln. Fiktional: Im Fernsehen ein Amoklauf, der ihn daran erinnert, was alle fürchten, womit er sie unter Druck setzen kann: Inspiration. Real: Er entscheidet sich, gegen die vorzugehen, die für sein Leid verantwortlich sind, erpresst die Staatsanwaltschaft. Dass es nie zum Amoklauf kommen wird, dass sie ihn festnehmen werden, ist ihm vermutlich klar: Er will jetzt die Aufmerksamkeit, die er nie bekommen hat, schickt die Mail ab: Erster Wendepunkt im Gegenwartsstrang.
Das Rätsel des Außenseiters führt uns durch die Vergangenheit.
Nehmen wir an, Lena Niethammer kennt Linda Aronson nicht. Und nehmen wir an, Literatur über Dramaturgie im Journalismus (die es vermutlich gibt? Interessiert mich!) kennt Linda Aronson und filmische Parallelerzählungen nicht. Wie kann man sich der Entscheidung nähern, mit dieser Schlüsselszene, diesem Punkt, in dem die beiden Geschichten zusammenfinden? Eine Überlegung: Eine Vorwegnahme ist im Journalismus sehr üblich. Der Vorspann eines Artikels nimmt sehr oft dessen Erkenntnis vorweg, um anschließend zu erläutern, wie (und von wem und wo und wann und warum) es zu dieser Erkenntnis kam.
Flashback-Erzählungen dieser Art funktionieren ganz ähnlich. Anders als journalistische Artikel müssen sie bloß nicht in der Erkenntnis verharren, sondern können die daraus folgende Entscheidung zum Handeln gleich miterzählen. Die ist für uns zunächst unverständlich und rätselhaft, wir kennen ja ihren Hintergrund nicht. Dieses Rätsel wird uns durch die erste Hälfte der Geschichte führen; zum Schluss, wenn wir in die Schlüsselszene zurückkehren und die Vergangenheit in die Gegenwart fließt, werden wir es verstehen, werden wir anders als zu Anfang seine Beweggründe kennen und sein Anliegen unterstützen. Er begegnet uns als »rätselhafter Außenseiter«, so nennt Aronson seine dramaturgische Funktion, sein Anliegen nennt sie den »vereitelten Traum«.
Parallelerzählungen kommen dem epischen Erzählen so nah, wie es dem Film nur möglich ist.
Auch Niethammer kehrt in ihrer Reportage zu diesem Augenblick zurück: Martens nenne es eine Verzweiflungstat, seinen letzten Versuch, ein bisschen Gerechtigkeit zu erhalten. Bis sie zu diesem Punkt kommt, hat Niethammer uns mit all den Informationen versorgt, die wir wissen müssen: Über Martens natürlich. Und auch über das Zeugenschutzprogramm und seine vielen anderen Fehler, da lässt sie andere zu Wort kommen, beschreibt kurz Schicksale anderer Zeugen. Das ist aus verschiedenen Gründen gut, aber vor allem ist es gut platziert. Denn nachdem sie zur Schlüsselszene zurückgekehrt ist kann sie geradeaus und ungehindert Martens Geschichte zu Ende erzählen. Die Psychiatrie, der Prozess, der beschämte Staatsanwalt, die Bewährung, die richterliche Anerkennung, dass das eigene Leben echt war.
Parallelerzählungen im Film kommen dem epischen Erzählen wohl so nah, wie es dem Film nur möglich ist. Der Protagonist ist zunächst Außenseiter, wir kritisieren ihn früh, identifizieren uns erst spät. Es wird nicht nur der Protagonist erzählt, sondern auch diejenigen, die ihn betrachten, und wo nicht eine, sondern zwei oder mehr Personen erzählt werden, da wird Gesellschaft erzählt. Und wo nicht eine, sondern zwei Zeitebenen erzählt werden, da wird Geschichte erzählt. Kein Wunder, dass sich Aronson auch auf die Odyssee bezieht. Dass Niethammer also auch andere zu Wort kommen lässt, die anders als Martens zu einem Überblick fähig sind, und Kontext schildern können, macht großen Sinn. Und: Es ist ja immer noch eine journalistische Reportage und kein fiktionaler Film.
Filmdramaturgie kann sehr wertvoll für den Journalismus sein.
Auch Aronson bringt in der Flashback-Variante des »vereitelten Traums« mehrere Protagonisten ins Spiel. Wenn unser »rätselhafter Außenseiter« Außenseiter bleiben soll, braucht die Gegenwart einen anderen Protagonisten, der wie wir beginnt, den Außenseiter zu verstehen und sich mit ihm verbündet: Im Artikel käme diese Rolle vielleicht dem Anwalt zu, vielleicht sogar der Autorin selbst, auch wenn sie sich nicht hineingeschrieben hat. Es ist wohl kein Wunder, dass der Protagonist einer so frühen Flashback-Erzählung wie Citizen Kane Journalist ist: Wer nähert sich den Außenseitern an, wenn nicht sie? (Und wir, aber wer will schon Drehbuchautoren sehen.)
Unsere Erkenntnis habe ich wie zwischendurch angekündigt im Vorspann des Artikels vorweggenommen: Filmdramaturgie kann sehr wertvoll für den Journalismus sein. Was aussteht, ist nun eure Entscheidung zur Tat. Liebe Journalisten, wir haben Dramaturgie für euch, liebe Filmemacher, Journalisten haben Geschichten für uns.