Terror – Ihr Urteil, der Fernsehfilm aus der Feder von Jurist Ferdinand von Schirach nach seinem gleichnamigen Theaterstück, ist nach seiner Ausstrahlung am Montag vor zwei Wochen viel diskutiert worden – in Hinblick auf seine Fragen des Rechts und der Moral, nicht aber solchen der Dramaturgie. Dabei ist er dahingehend höchst interessant, aus verschiedensten Gründen und eben auch aus jenen Fragen der Moral – und aufgrund seines Scheiterns.
Dramaturgie, damit meine ich nicht die Ausstrahlung von „Hart aber fair“, nicht das Auflockern des Schrecklichen durch Späßchen, und ich verwechsle mit ihr auch nicht die Arbeit des Dramatikers. Es geht um Fragen der Bedeutung des Geschehens für die Figuren und für den Zuschauer und Fragen ihrer Vermittlung.
Der Inhalt: Luftwaffen-Major Lars Koch hat entgegen dem ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten ein Passagierflugzeug abgeschossen, das von einem Terroristen entführt war und auf die Münchener Allianz-Arena zu stürzen drohte, und steht nun wegen 164-fachen Mordes vor Gericht. Als Zeuge sind der Vorgesetzte und die Nebenklägerin, Angehörige eines Opfers geladen. Der Richter weist der Zuschauerin und dem Zuschauer zu Beginn und zum Schluss der Verhandlung die Aufgabe zu, als Schöffen über den angeklagten Koch zu entscheiden.
Die Figuren: Kommentatoren des Protagonisten der eigentlichen Geschichte.
Dass eine Figur die vierte Wand durchbricht und zum Zuschauer spricht geschieht selten, aber ist durchaus modern und wird gern als Element des epischen Theaters von Brecht verstanden. Doch wie schon Francis Underwood in House of Cards bricht auch in Terror der Richter hierbei nicht wie von Brecht gedacht aus seiner Rolle um diese zu kommentieren. Das wäre bei dieser Art des Versuchsaufbaus auch gar nicht nötig: Fast alle Figuren sind ständige kritische Kommentatoren des Protagonisten der eigentlichen Geschichte.
Denn auch das ist Terror: Eine Parallelerzählung, die gleichzeitig die vergangene Geschichte der Tat mit der gegenwärtigen Geschichte des Prozesses verbindet. (Apropos Kevin Spacey: Das erinnert an Alan Balls erste Fassung von American Beauty.) Der Protagonist der gegenwärtigen Erzählung versucht den rätselhaften Außenseiter, den Protagonisten der vergangenen Erzählung zu ergründen. Eine »Case History«, man kann sagen ganz natürlicherweise. Wer ist der Protagonist der gegenwärtigen Erzählung? Es ist derjenige, der am Ende eine Entscheidung fällen muss: Der Schöffe, der Zuschauer, die Zuschauerin.
Was erzählt uns das? Viel über die schwierige Aufgabe eines Schöffen, der an Gerichtsurteilen mitzuwirken hat und dessen einzige Qualifikation dabei ist, ja sein darf (Juristen sind nicht zugelassen), die deutsche Sprache zu beherrschen. Mit diesen im Film als Figur gar nicht vorhandenen Schöffen identifizieren wir uns, werden wir auch vom Film und seinen Figuren (dem Richter) identifiziert. Das impliziert erst mal eine größere Nähe zum Geschehen, weil zwischen uns und die Handlung keine weitere Figur geschaltet ist.
Der Zuschauer ist Protagonist, ist Handelnder in dieser Erzählung.
Der Schöffe, die Zuschauerin, der Zuschauer ist Protagonist, ist Handelnder in dieser Erzählung. Seine Aufgabe ist die große Anstrengung der Wahrheits- und Urteilsfindung in einem moralisch und rechtlich derart forderndem Fall. Das ist im nicht-interaktiven Medium Film schwierig. Weil der Zuschauer nicht selbst handeln, fragen, ermitteln, argumentieren kann, tun das stellvertretend Richter, Staatsanwältin und Strafverteidiger für ihn. Das geschieht so auch vor realem Gericht, allerdings ist es Schöffen z.B. möglich, selbst Fragen zu stellen.
Die Interaktivität führt uns zur dramatischen Frage, denn über ihre Beantwortung soll schließlich der Zuschauer entscheiden: Ist Lars Koch schuldig? Es ist die Frage, die jede Gerichtsverhandlung stellt, die Frage, die dieser Film stellt, die Frage, die der Richter uns, den Schöffen, den Zuschauerinnen und Zuschauern stellt. Sie trägt den Film, führt kausal und konsequent von der Formulierung der Frage bis zu ihrer Beantwortung – oder sollte das zumindest tun. Tatsächlich weicht der Film ab, findet andere mögliche Schuldige und nimmt sich Zeit für die Opfer des Angeklagten.
Das ist in einer breiten Diskussion nicht falsch, ganz im Gegenteil, doch es schwächt die Dramaturgie des Films, weil es von der Problemstellung ablenkt, und es schwächt die Dramaturgie des Spiels, weil wir, die Schöffen, die Spielerinnen und Spieler während dieser Ausflüge unserer Aufgabe nicht nachkommen können. Das und die Abhängigkeit von unseren Vertreterfiguren im Film vergibt ganz und gar die Kraft von Interaktivität. Jede Spielerin, jeder Spieler sollte selbst entscheiden, wie sehr und tief sie sich in die jeweiligen Fragestellungen hineinarbeitet, bevor die letzte Entscheidung getroffen werden muss.
Die Figur ist nur verantwortlich, wenn sie informiert entschieden hat.
Das ist besonders dann richtig, und es ist nur dann fair, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer für ihre Entscheidung verantwortlich sind – und dank des Senders und der Begleitung der Medien sind sie ja auch eifrig dafür verantwortlich gemacht worden. Aus dramaturgischer Sicht ist das richtig: Selbstverständlich sollte der Protagonist für den Ausgang der Erzählung verantwortlich sein. Aber auch in der Dramaturgie gilt: Die Figur kann nur verantwortlich gemacht werden, wenn sie ihre Entscheidung informiert getroffen hat.
Den Chancen des Spiels auf selbstbestimmte Information aber werden in Terror die Grenzen des Mediums Film gesetzt. Der Zuschauer bleibt passiv, bis kurz vor Schluss. Die geringe Zeit, die zur Entscheidung bleibt, macht das nicht besser. Zum üblichen Film mit üblicher Dramaturgie ist das wenig Unterschied: Dort entscheidet der Zuschauer nach dem Schluss über seinen Blick auf die Erzählung und die Entscheidungen, die darin getroffen wurden. Ganz besonders, wenn sie derart distanziert ohne Figurenidentifikation erzählt werden: Zum Beispiel im Journalismus und im Dokumentarfilm.
Das führt uns zurück zum epischen Erzählen. In Terror wird nicht nur der Thriller des Angeklagten erzählt, wie er sich durch seinen Abschuss zum Protagonisten der vergangenen Erzählung ermächtigt. Sondern eben auch der kritische Blick anderer Menschen auf ihn. Den wir so aus der journalistischen Arbeit kennen. Und wo nicht eine, sondern zwei oder mehr Personen erzählt werden, wird Gesellschaft, wo nicht eine, sondern zwei oder mehr Zeitebenen erzählt werden, wird Geschichte erzählt. Das ist Epos.
Der Epos verharrt in der Beobachtung.
Was dem Epos (und auch dem epischen Theater nach Brecht, und zwar mit voller Absicht) im Vergleich zum Drama aber fehlt, ist Erkenntnis. Der Epos verharrt in der Beobachtung, das Drama hingegen involviert den Zuschauer emotional um ihn für die Erkenntnis zu öffnen und ihn dann zusammen mit dem Protagonisten zu dieser Erkenntnis zu führen. Terror tut das nicht, und doch erwartet der Film vom Zuschauer statt der fortwährenden kritischen Beobachtung fremder Erkenntnis plötzlich eine eigene, ohne dass der für eine solche offen wäre. Eine Vermutung: Jeder Abstimmende hat so gestimmt, wie er es zu Beginn getan hätte.
Ich behaupte: Der Film erwartet auch durch seine aufwändige fremde Konstruktion nicht mehr Entscheidung vom Zuschauer als jede andere Erzählung. Sie misst ihr nur mehr Gewicht bei, während sie die Grundlage der Entscheidung (die Informiertheit des Entscheidenden) vernachlässigt. Das lässt vermuten, dass Terror das falsche Medium gewählt hat. Ein Dokumentarfilm, eine Reportage hätten den Zuschauer besser informiert. Ein Videospiel hätte sie besser seine Fragestellung erforschen lassen. Ein Drama hätte sie bewegt.
Das Event hat sie bloß aufgeregt. Und das ist keine Kunst.
Ja, kann man so sehen. Hilft bei der Klärung des eigenen Unbehagens…