Es gibt mehr Männer- als Frauenrollen im deutschen Film und Fernsehen. Nur 35% der Figuren insgesamt, nur 20% der Hauptfiguren sind weiblich. 80% der deutschen Filme haben keine gleichberechtigte Rollenverteilung. Das sind Zahlen aus einer Studie des Geena Davis Institute on Gender in Media vom letzten Jahr. Das ist ein Phänomen, das Schauspielerin Belinde Ruth Stieve schon seit drei Jahren (Herzlichen Glückwunsch zum Blog-Geburtstag!) verfolgt. Das ist ein Problem, für das Stieve eine Lösung hat, sie nennt sie Neropa.
Die offensichtlich – braucht es hier einen Hinweis auf unsere Demografie? In Sherlocks (The Abominable Bride) Worten: Frauen sind eine Armee – mangelhafte Repräsentanz von Frauen, nicht nur nach Zahlen sondern auch inhaltlich (Aus der Studie: “The US, Russia, Germany, France & Australia show the highest discrepancy between employed women on-screen and in the real world.”) ist ein weltweites Problem, und eben auch ein deutsches. Und die geschlechtliche Diskrepanz vor der Kamera wohl auch Resultat derselben behind the scenes.
An mehr Gender-Gerechtigkeit gewinnen wir alle.
Gender-Gerechtigkeit sollte heute selbstverständlich sein und ist es dennoch nicht. Sonst würde der kanadische Premierminister nicht gefragt, warum ihm ein von Frauen und Männern in gleicher Zahl besetztes Kabinett wichtig sei. Sonst würde seine Antwort, “Because it’s 2015,” nicht solche Beachtung finden. Gender-Gerechtigkeit sollte selbstverständlich sein, weil Gerechtigkeit bzw. das gemeinsame Streben nach ihr selbstverständlich sein sollte. Und diejenigen, die dafür zu zynisch sind, sollte immerhin der eigene persönliche Vorteil überzeugen. Denn an mehr Gender-Gerechtigkeit gewinnen wir alle.
Dabei muss man gar nicht glauben, dass Frauen irgendwelche bestimmten weiblichen Qualitäten mitbringen würden, die in Männerdomänen ansonsten fehlten. Gerade in der Kunst dürften ja diese traditionell weiblichen Stärken wie Sensibilität und Empathie auch unter harten Männern verbreitet sein (hoffentlich). Man kann aber auch einfach vermuten, dass Frauen und Männer die selben Fähigkeiten in individuell unterschiedlicher Ausprägung haben, und sich dann über die dazu im Widerspruch stehende Geschlechter-Statistik wundern. Man wirft Männern ja selten vor, dass sie für Frauen blind seien, doch offenbar sind sie es.
Dazu, liebe Zyniker, ein Hinweis, vielleicht eine Warnung. Solltet ihr euch für mehr Gender-Gerechtigkeit aussprechen, weil ihr von ihr profitieren wollt, denkt ihr nicht anders als der Macho, der ihr vielleicht gar nicht sein wollt: Ihr betrachtet eine Frau ausschließlich in ihrem Bezug zu euch, ihrer Funktion für euch. Das gilt auch für die Ethnien-Debatte, die uns weniger beschäftigt, als zum Beispiel die Vereinigten Staaten. Das gilt aber auch genauso für all diejenigen, die erst mal fragen, was der Flüchtling denn der Wirtschaft bringt, bevor sie ihm helfen (lassen).
Stieve ist Botschafterin des European Women’s Audiovisual Network.
Ich weiß nicht, ob und wie sehr das Problem der fehlenden Gender-Gerechtigkeit ihrer Branche im Bewusstsein deutscher Filmemacherinnen und Filmemacher ist. Ich weiß nicht, ob es auch andere Lösungsansätze gibt, andere Ideen, die vielleicht sogar schon in die Tat umgesetzt werden. Was es wohl zunächst bräuchte, wären Zahlen um das Problem zu verstehen. Und man muss Belinde Ruth Stieve sehr sehr dankbar sein, dass sie in mühevoller Arbeit uns mit einigen dieser Zahlen versorgt. Und, dass sie uns mit Neropa einen guten Vorschlag macht, Gendergerechtigkeit anzugehen:
Zu Beginn einer Produktion sollen alle geschlechtlich neutralen Rollen, also solche, bei denen es von der Handlung her nicht von Bedeutung ist, ob sie männlich oder weiblich sind identifiziert werden, um sie dann abwechselnd weiblich und männlich zu besetzen. Das ist erschreckend simpel – erschreckend deshalb, weil man ob der Simplizität des Einfalls (und das soll bloß kein Vorwurf an Frau Stieve sein; welche Lösung ist besser, als die, die schnell zu verstehen und schnell umzusetzen ist!) vermuten muss, dass bis Januar 2016 niemand anderes über das Problem nachgedacht hat.
Ganz kurz und viel zu spät im Text zur Erfinderin: Belinde Ruth Stieve ist selbst Schauspielerin. Außerdem Autorin und Botschafterin des European Women’s Audiovisual Network in Deutschland. Auf ihrem Blog SchspIN wertet sie das Geschlechterverhältnis in deutschen Kino- und Fernsehproduktionen aus. Wir veröffentlichten hier auch schon einen Gastartikel von ihr: Männer schreiben Drehbücher. Auf SchspIN stellte Stieve Anfang des Jahres dann das Konzept Neropa vor, der Name ein Kürzel für Neutrale Rollen Parität, mit sehr positiven Rückmeldungen aus der Branche.
Wenn die Zahlen stimmen, können die Rollen immer noch unterentwickelt sein.
Neropa kann das Problem der Gendergerechtigkeit im deutschen Film nicht lösen, aber es kann sie lindern: Nur vor der Kamera und dort auch nur quantitativ und nicht qualitativ, denn selbst wenn die Zahlen endlich stimmen, können die Rollen selbst immer noch unterentwickelt und unterfordernd sein – doch immerhin wäre dann ein Anfang gemacht! Ich vermute stark, dass Rollen, bei denen das Geschlecht für die Handlung egal ist, zum größten Teil sehr kleine Rollen sind – doch immerhin wäre ein Anfang gemacht.
Stieve sieht RegisseurInnen, ProduzentInnen, RedakteurInnen und Casting Directors in der Pflicht, doch ich habe schon einmal in diesem Blog dafür geworben, dass sich schon im Vorfeld wir DrehbuchautorInnen dieser Aufgabe annehmen sollten. Zum einen natürlich, weil diese Arbeit in der Drehbuchphase vermutlich am wenigsten aufwendig ist, und die anderen Gewerke in der Vorproduktion genug zu tun haben. Zum anderen, weil wir uns nicht um diese Möglichkeit der Einflussnahme auf Drehbuch und fertigen Film bringen sollten – Einfluss verlieren wir im Lauf der Produktion schon noch genug. Und es hat erzählerische Vorteile:
Denn wenn ich oben davon schreibe, dass das Geschlecht der betreffenden Rollen nicht für die Handlung von Bedeutung sei, dann meint das vor allem: Es ist nicht für den Protagonisten von Bedeutung. Und Bedeutung kann das Geschlecht einer Figur für unseren Protagonisten aus verschiedenen Gründen haben. Unser Protagonist hat eine Sexualität. Unser Protagonist hat ein Rollenbild. Unser Protagonist vergleicht sich, zum Beispiel mit Figuren des eigenen Geschlechts und ihrer Attraktivität für das Geschlecht seiner Wahl. Oder als Vater mit anderen Vätern, als Mutter mit anderen Müttern. Und vielleicht ist unser Protagonist selbst sogar ein Sexist. Vielleicht ist unsere Protagonistin eine Sexistin.
Der Protagonist hat Sexualität und Rollenbild.
So etwas drückt sich in Details und Nuancen aus, die in der hektischen Filmproduktion durchaus übersehen werden können. In Taxi Driver, den ich hier letzten Monat untersucht habe, spielt es für den rassistischen Travis durchaus eine Rolle, welche Hautfarbe selbst ein Extra im Hintergrund hat. Oder welches Geschlecht und welche Sexualität, wenn er neidisch irgendwelche Pärchen bei ihren Dates beobachtet.
Neropa ist schon deshalb für jede Autorin und jeden Autor ein sehr hilfreiches Werkzeug, weil es den Blick auf das Geschlecht jeder Figur und seine mögliche Bedeutung für Protagonist und Handlung lenkt. Ein Gleichgewicht in der Repräsentanz der Geschlechter sollte sich dann ja einstellen, denn das entspricht unserer Erfahrung in der Welt und der Erfahrung unserer Protagonisten in ihrer Welt. Ausnahmen (historische Kriege, historische Seefahrt, usw.) bestätigen die Regel. Das sind Erzählentscheidungen, die schon die Autorin oder der Autor treffen sollte – wer das nicht tut und Bücher mit schlecht begründetem Ungleichgewicht abgibt, darf sich nicht daran stören, dass in der Vorproduktion dann durch andere für mehr Gender-Gerechtigkeit gesorgt wird.