Welche Bedeutung hat der Brexit für Europa? Welche Chancen liegen darin für die zukünftige Gestaltung Europas? Welche Auswirkungen hat er auf das Wiedererstarken nationalistischer Kräfte? Und wie muss sich Europa verändern, um diese Kräfte einzudämmen?
Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler Großbritanniens hat entschieden, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austritt. Die unmittelbaren Folgen davon sind Chaos, Ratlosigkeit und Unsicherheit darüber, wie die dadurch entstandenen Konflikte sowohl jeweils Großbritanniens und der EU als auch zwischen Großbritannien und der EU gelöst werden können.
Da ein Konflikt ein zentrales Element einer guten Story ist, kann ein Blick auf den Brexit aus der Perspektive des Storytelling möglicherweise für Klarheit sorgen. Dabei geht es nicht um die formalen Aspekte des Austritts, die Neugestaltung der Beziehung zwischen Großbritannien und der EU oder die Folgen für die Wirtschaft. Sondern um die Fragen, welche Auswirkungen der Brexit auf die erstarkenden nationalistischen, antieuropäischen und in ihrer Grundanlage antidemokratischen Kräfte in Europa haben wird (wie beispielsweise die AfD, der französische Front National, die österreichische FPÖ, die niederländische „Partei der Freiheit“); welchen Anteil die EU an diesem Wiedererstarken hat und ob sie angesichts dieser nationalistischen Bedrohung in ihrer derzeitigen Verfasstheit zukunftsfähig ist; welche Rückschlüsse die Politikerinnen und Politiker aus dem Brexit auf die Konstruktionsfehler und Schwächen der EU als System ziehen und wie sie dieses System reformieren können, um diesem existenzgefährdenden Nationalismus Grenzen zu setzen und ein Europa der Menschen zu werden.
Momentan weist einiges daraufhin, dass sowohl Großbritannien als auch die EU die Verlierer des Brexit sein werden, und einzig die nationalistischen Kräfte davon profitieren können. Das Ergebnis des Referendums ist der erste große Erfolg der Nationalisten, Großbritannien das Land, das vormacht, was die nationalistischen Kräfte der anderen Länder anstreben – den Austritt aus der EU. Als eine Gefahr von Innen für den Zusammenhalt und die Existenz der EU sind sie eine größere Bedrohung als die subversive Agitation Russlands gegen die Europäische Union, der Terrorismus des Islamischen Staates oder die skrupellosen Spekulationen einiger Finanzmarktakteure gegen schwankende Länder der EU während der Euro-Krise.
Für die Zukunft Europas wird daher entscheidend sein, welche Lehren die EU über sich selbst aus dem Brexit als Erfolg der Nationalisten zieht. Hierfür muss sie zuerst einmal anerkennen, dass das Wiedererstarken nationalistischer Kräfte ein deutliches Zeichen dafür ist, dass das System der EU nicht so funktioniert, wie die EU-Konstrukteure es geplant haben. Denn die eurokritische bis -feindliche Haltung von Parteien wie der AfD ist eine Reaktion auf die Konstruktion Europas, insbesondere auf die Politik der eindimensionalen europäischen Integration, auf die Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips, den Verlust der Souveränität und auf das strukturelle und institutionelle Demokratiedefizit. Immer mehr Menschen identifizieren sich nicht mehr mit der EU, stattdessen verstärkt sie die Ängste vor Identitäts- und Kontrollverlust und damit vor Fremdbestimmung, die die nationalistischen Kräfte für sich zu nutzen wissen.
Solange die Verantwortlichen der EU lediglich die formalen Aspekte des Austritts Großbritanniens, die Gestaltung der zukünftigen (wirtschaftlichen) Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU und das Verhindern negativer Folgen für die Wirtschaft im Blick haben, bleiben sie auf einem Auge blind und übersehen die nützliche Funktion des Brexit und der nationalistischen Kräfte. Denn sie verweisen auf Probleme, die nicht hinreichend gelöst sind, auf die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der aktuellen Situation, auf deren Ängste und deren Vertrauensverlust gegenüber den etablierten Parteien und dem europäischen System. Damit geben sie zugleich den EU-Befürwortern die Möglichkeit, Rückschlüsse auf ihr eigenes politisches Handeln zu ziehen, auf ihre Fokussierung auf bestimmte Konflikte einerseits und ihre Ausblendung anderer Konflikte andererseits, auf ihre Lösungsansätze für diese Konflikte und auf deren Tauglichkeit oder Untauglichkeit.
Aus der Perspektive des dramaturgischen Modells der Heldenreise betrachtet, übernehmen der Brexit und die nationalistischen Kräfte hier die Funktion des sogenannten Schattens. Der Archetypus „Schatten“ steht einerseits für die Ängste, Zweifel und inneren Konflikte der Hauptfigur. Andererseits spiegelt er ihr ihre blinden Flecken, ihre Schattenseite wider, also jene Aspekte, die die Hauptfigur an sich selbst nicht sehen will. Ist einem das bewusst, kann man mit einem Schatten konstruktiv umgehen, etwas über sich lernen und sich weiterentwickeln. Ist es einem nicht bewusst, ist die Reaktion auf einen Schatten heftige Ablehnung. Schließlich will man nicht sehen, was er einem zeigt. Daraus erklärt sich die harsche und ungestüme Reaktion vieler Politiker und Journalisten auf den Brexit. Das ist jedoch ein Fehler. Stattdessen sollten sie ihn als Chance begreifen, ihr Handeln zu überdenken und zu optimieren und Strategien zu entwickeln, um Europa neu zu gestalten und die nationalistischen Kräfte zurückzudrängen (über die AfD als Schatten der gegenwärtigen Regierungspolitik siehe den ersten Teil meiner vierteiligen Artikelreihe „Das Storytelling der AfD“).
Den Brexit aus Sicht des Storytelling zu betrachten, heißt, ihn mit den Werkzeugen der fiktionalen Dramaturgie zu analysieren. Die fiktionale Dramaturgie ist mehr als lediglich ein System aus Prinzipien, Erfahrungswerten, Denk- und Handlungsweisen, derer sich fiktional arbeitende Autorinnen und Autoren bedienen können, um ihre Drehbücher, Romane, Theaterstücke und Hörspiele zu entwickeln. Sie ist eine Methode, mit der man die Realität wahrnehmen, Ursachen analysieren, Zusammenhänge erkennen, Dynamiken verstehen und letztlich die Welt und das Leben darstellen und gestalten kann. Als solche nenne ich sie Storytelling – die Anwendung der Werkzeuge der fiktionalen Dramaturgie in non-fiktionalen Kontexten.
Der zentrale Wertekonflikt: Zugehörigkeit versus Selbstbestimmung
Aus der Perspektive des thema- und werteorientierten Storytelling betrachtet, liegt der Brexit-Story das inhaltliche Thema „Europäische Union“, das emotionale Thema „Gemeinschaft“ und die zentrale Frage „Welche Gemeinschaftsform ist die bessere – die große pluralistische oder die kleine homogene?“ zugrunde. Daraus resultiert ein Wertekonflikt, der die Zukunft der Gesellschaften der EU und Großbritanniens maßgeblich prägen wird: der Wertekonflikt zwischen Zugehörigkeit (und als Folge davon Sicherheit, Solidarität und Wohlstand) und Selbstbestimmung (als Voraussetzung für Freiheit, Selbstbestimmung und Identität). Ausgelöst wurde er durch die europäischen Verträge, insbesondere die Verträge von Maastricht und Lissabon, verstärkt wurde er durch die Euro-Krise und die Euro-Rettungspolitik.
In diesem Wertekonflikt drückt sich der zentrale Antagonismus der Gegenwart aus, auf dessen einer Seite die Europa-Befürworter stehen und auf der anderen Seite die Europa-Gegner. Der Brexit macht diese Story zur wichtigsten, alles entscheidenden Story der EU: Welche Form von Gemeinschaft will sie sein? Wie flexibel und offen in beide Richtungen (im Sinne von „rein in die EU“ und „raus aus der EU“) oder starr und geschlossen (im Sinne von „wer einmal drin ist, kommt nicht mehr so einfach raus“) soll sie sein? Soll der Integrationsprozess, so wie er bisher abläuft, zu einer noch größeren Verkrustung führen oder soll die EU organisch wachsen, ein lebendiger, atmender Organismus sein?
Gelingt es der EU nicht, diesen Konflikt zu lösen – und das heißt, sich selbst und ihren Integrationsprozess zu reformieren -, werden die Ängste vieler und immer mehr Menschen vor Kontroll- und Identitätsverlust weiter wachsen und die nationalistischen Kräfte noch mehr an Zulauf gewinnen, bis sie stark genug sind, um die EU aufzulösen. Die Fallhöhe der EU ist also enorm, der Brexit setzt sie unter Handlungsdruck und Reformzwang.
Neben diesem Wertekonflikt gibt es übrigens noch einen weiteren, der dieselbe prägende Gestaltungsmacht über unsere Gesellschaft hat: der zwischen Freiheit und Sicherheit. Er wurde durch das Attentat auf das World Trade Center ausgelöst und durch die folgenden Kriege der westlichen Mächte gegen islamistische Terroristen und die u.a. deshalb steigende Zahl von Flüchtlingen verstärkt: Wie viel Freiheit sind wir bereit aufzugeben, um die Sicherheit vor terroristischen Anschlägen zu erhöhen? Auf wie viel Sicherheit wollen wir verzichten, um unsere freiheitlichen Werte weiter leben zu können?
Auch auf diesem Wertekonflikt bauen die nationalistischen Kräfte ihr Storytelling auf, indem sie mehr Sicherheit durch das Schließen der Grenzen und die Ausgrenzung von Muslimen und Muslimas versprechen. Sie verkehren diesen Wertekonflikt dadurch in einen Identitätskonflikt, dass sie die Angst vor Überfremdung und Islamisierung schüren. Zurzeit sind sie mit diesem Storytelling erfolgreich, vor allem auch deshalb, weil die Europäische Union selbst keine eigene glaubwürdige Story für die Lösung des Wertekonflikts zwischen Sicherheit und Freiheit findet.
Maximaler Konflikt und maximale Fallhöhe – die nationalistischen Kräfte als Gewinner
Aus Sicht des konflikt- und handlungsbasierten Storytelling handelt es sich beim Brexit um eine Story mit maximalem Konfliktpotenzial: Zum einen verfolgen die beiden Protagonisten EU und GB sich ausschließende dramatische Ziele, das heißt: Nur einer kann gewinnen – einer muss der Verlierer sein. Zum anderen ist für beide die dramatische Fallhöhe ebenfalls maximal: Es geht um alles, um die Existenz.
Großbritannien muss in den anstehenden Austrittsverhandlungen ein Ergebnis anstreben, das dazu führt, dass es dem Land und den Menschen nach dem Austritt besser geht: die Wirtschaft wächst, die Zahl der Arbeitsplätze steigt, es kommen keine Flüchtlinge und ungeliebte EU-Bürger hauptsächlich aus Osteuropa mehr in das Land (das war eines der wichtigsten Argumente der Brexit-Befürworter), die gesellschaftliche Spaltung, die durch die Auseinandersetzung um den Brexit verschärft wurde, wandelt sich in eine nationale Einheit, der oder die neue Premierminister oder -ministerin erhält bei den nächsten Wahlen die absolute Mehrheit, weil die Bürgerinnen und Bürger so zufrieden mit ihrem Leben und der Politik sind. Das wäre das Idealszenario für Großbritannien. Für die EU wäre es ein Horrorszenario.
Denn es würde das Schlimmste herbeiführen, was ihr passieren kann: ihr Ende. Die Frage nach dem Schlimmsten, was der Hauptfigur passieren kann, ist eine zentrale Entwicklungsfrage in der fiktionalen Dramaturgie. Die Antwort darauf drückt die größte Angst der Hauptfigur aus. Mit ihr muss sie konfrontiert werden – sie muss sie durchleben -, um ihre Persönlichkeit verändern und den Konflikt positiv lösen zu können. Die größte Angst der EU ist, sich aufzulösen, zu zerbrechen. Vielleicht muss sich auch für sie diese Angst bewahrheiten (oder zumindest ihr Eintreten unmittelbar bevorstehen), damit sie sich so entwickeln kann, dass sie in der Lage ist, den Wertekonflikt zwischen Zugehörigkeit und Selbstbestimmung positiv zu lösen.
Ein Großbritannien, mit dem es nach seinem Austritt aus der EU aufwärts geht, wäre der unwiderlegbare Beweis, dass sich ein Land besser entwickelt, wenn es kein Mitglied der EU ist. Für die nationalistischen Kräfte Europas hätte das geradezu eine Katapultwirkung. Denn eine ihrer wichtigsten Anti-Europa-Storys – „Die EU bringt uns keine Vorteile, sondern nur Nachteile.“ – würde durch diesen Beweis weiter an Identifikationspotenzial gewinnen. Es wäre in der Zuspitzung also nur noch eine Frage der Zeit, bis die EU auseinanderbrechen würde. Genau das ist ihre Fallhöhe: Es geht um ihre Existenz.
Das Zweitschlimmste, was der EU passieren könnte, wäre: Großbritannien geht es nach seinem Austritt weder besser noch schlechter – dafür aber hat es wieder die volle Souveränität. Auch das würde die nationalistischen Kräfte stärken. Denn Selbstbestimmung ist das zentrale emotionale Thema ihrer Anti-Europa-Storys. Die Angst, auf der ihre Storys hier aufbauen, ist die vor Kontrollverlust: „Wir verlieren die Kontrolle und können immer weniger selbst entscheiden, was in unserem Land passiert und wer zu uns kommt.“
Diese Story hat ein so hohes Identifikationspotenzial und damit eine große Anziehungskraft, weil Selbstbestimmung einer der höchsten universellen Werte des Menschseins ist. Ohne Selbstbestimmung keine Kontrolle und keine Identität. Das emotionale Thema Identität ist deshalb einer der stärksten Treiber der nationalistischen Parteien (mehr hierzu wieder in „Das Storytelling der AfD“).
Das dramatische Ziel der EU in den Verhandlungen mit Großbritannien kann daher kein anderes sein, als ein Ergebnis, das dazu führt, dass es Großbritannien spürbar schlechter geht nach dem Austritt: weniger Wachstum, Verlust von Arbeitsplätzen, Steuererhöhungen, Verteuerung des alltäglichen Lebens, eine noch tiefere Spaltung der britischen Gesellschaft. Daraus ergibt sich die Fallhöhe für Großbritannien: Es geht um alles, um seine Existenz.
Angela Merkel hat es in ihrer Rede im Bundestag am 28. Juni 2016 bereits angedeutet: „Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte oder nicht. […] Wer aus dieser Familie austreten möchte, der kann nicht erwarten, dass damit alle Pflichten entfallen, die Privilegien aber weiterhin bestehen bleiben.“ Die Verhandlungen würden nicht dem Prinzip der „Rosinenpickerei“ folgen.
Die EU muss dieses Ergebnis anstreben, um eine ihrer zentralen Pro-Europa-Storys zu beweisen und damit wieder ihre verloren gegangene Glaubwürdigkeit herzustellen: Ohne EU geht es einem Land schlechter bzw. in der EU geht es ihm besser. Damit wären automatisch die Glaubwürdigkeit und die Anziehungskraft der zentralen Anti-Europa-Story zerstört. Das würde die nationalistischen Kräfte zwar schwächen, allerdings können sie diese Pro-Europa-Story zu ihren Gunsten drehen, das heißt, eine Conter-Story setzen. Großbritannien wird in diesen Verhandlungen nicht alle Forderungen durchsetzen können (oder um es mit Angela Merkel zu sagen: nicht alle Rosinen rauspicken können). Das werden die nationalistischen Kräfte sofort in den Vordergrund stellen: “Die britische Regierung konnte nicht alle Forderungen durchsetzen, weil die EU sie unter Druck gesetzt, Zwang ausgeübt und über den Tisch gezogen hat, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie hat zwar gekämpft wie die drei Löwen, aber sie musste bei ihren wichtigsten Forderungen Abstriche machen. Die EU hat unfair verhandelt.“
Damit würden sich die nationalistischen Kräfte der dramaturgischen Erzähltechnik des „Säens und Erntens“ bedienen. Indem sie das behaupten, legen sie den Samen für ihr Opfer- und ein weiteres Anti-Europa-Storytelling, das sie ernten können, wenn es Großbritannien schlechter geht: „Seht Ihr, wir haben es euch doch gleich gesagt. Hätte die EU die britische Regierung in den Verhandlungen nicht erpresst, hätte diese ihre Forderungen durchsetzen können und es würde allen Briten besser gehen.“
Dieser Schuldzuweisungsmechanismus kann nur ausgehebelt werden, wenn sofort das Säen widerlegt wird. Gelingt das nicht, wird eine Widerlegung der Schuldzuweisung nicht mehr möglich sein. Die Story von der EU als Sündenbock wäre erfolgreich, sie würde bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen und die nationalistischen Kräfte stärken.
Vermutlich meinte der Chef der EU-feindlichen UKIP Nigel Farage im Subtext genau das, wenn er sagt, dass die Konsequenzen für die EU viel schlimmer seien als für Großbritannien, wenn die EU die Handelsbeziehungen mit Großbritannien nicht in Form eines Freihandelsabkommens fortführen würde wie bisher. So gesehen klingt sein „Wir werden mit Euch Handel treiben, wir werden mit Euch kooperieren, wir werden Euer bester Freund auf der Welt sein“ eher wie eine Drohung.
Wenn die nationalistischen Kräfte durch den Brexit also gestärkt werden, unabhängig davon, ob es Großbritannien nach seinem Austritt besser oder schlechter geht – wäre es dann nicht am besten, es würde den Antrag erst gar nicht stellen? Oder ihn immer weiter hinausschieben, in der Hoffnung, dass sich die Gemüter abkühlen und die negativen Folgen, die das Wahlergebnis jetzt schon nach sich zieht, die Brexit-Befürworter umstimmen, und es zu einem zweiten Referendum kommt?
Den Antrag nicht zu stellen oder ein zweites Referendum abzuhalten, hätte verheerende Folgen. Nicht nur würden die nationalistischen Kräfte auch dadurch gestärkt werden, sondern die Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratien würde darüber hinaus Schaden nehmen. Denn beides – den Antrag nicht zu stellen und ein zweites Referendum abzuhalten – würde das Ergebnis einer demokratischen Wahl ignorieren. Das beschädigt die Demokratie und hätte quasi Beweiskraft für die Anti-Eliten-Storys der nationalistischen Kräfte, deren Anziehungskraft dadurch enorm verstärkt werden würde: „Die da oben machen, was sie wollen, die Probleme und Bedürfnisse von uns hier unten interessieren sie nicht. Sie scheißen auf das, was die Bürgerinnen und Bürger wollen.“
Gesundheitsminister Jeremy Hunt hat ein zweites Referendum bereits ins Spiel gebracht. Voraussetzung dafür soll sein, dass mit der EU ein Einwanderungsabkommen erzielt wird. Auch damit stärkt er die Nationalisten. Denn die Einwanderung von EU-Bürgern nach Großbritannien war eines der wichtigsten Themen der Brexit-Befürworter. Hunt würde sich also mit einem solchen Abkommen für die Einlösung einer der zentralen Brexit-Forderungen stark machen. Und damit eine Adaptionsstrategie verfolgen (zu den Strategien in der Auseinandersetzung mit nationalistischen Kräften siehe den demnächst erscheinenden letzten Teil meiner vierteiligen Artikelreihe „Das Storytelling der AfD“).
Diese Strategie versucht, nationalistische Parteien überflüssig zu machen, indem sie deren Positionen in der Hoffnung übernimmt, dass die Menschen dann nicht mehr sie, sondern die etablierten Parteien wählen. Prominentester Vertreter dieser Strategie in Deutschland ist Horst Seehofer. Francois Hollande hat diese Strategie gegen den Front Nationale bereits ebenso erfolglos angewandt wir Werner Faymann gegen die FPÖ.
Radikale Parteien können nicht dadurch geschwächt werden, dass die gemäßigten Parteien ihre Positionen übernehmen. Im Gegenteil: Bisher wurden sie immer stärker. Denn die Folge davon ist, dass die Gesellschaft immer mehr nach radikalen Vorstellungen gestaltet wird und diese damit immer tiefer in die Mitte der Gesellschaft hinein anschlussfähiger werden. Wenn Regierungsparteien Positionen der Radikalen übernehmen, um an der Regierung zu bleiben – also aus Machtkalkül -, dann setzen sie die Radikalen mit an den Regierungstisch und zwar an die Kopfseite; dann müssen die Radikalen nicht an die Regierung kommen, um Macht auszuüben.
Um die nationalistischen Kräfte also nicht zu stärken, muss die britische Regierung den Austrittsantrag stellen und in die Verhandlungen gehen. Die Frage ist, wie es dann weiter geht?
Die Entwicklung des Konflikts
Aus der Perspektive der Drei-Akt-Struktur als Grundmuster der Entwicklung eines Konflikts betrachtet, könnte die Brexit-Story folgendermaßen aussehen: In der ersten Phase des Konflikts – seiner Entstehung – beschließt die britische Regierung das Referendum. Am Ende dieser Phase entscheiden die Wählerinnen und Wähler, dass Großbritannien aus der EU austreten soll. Die Folge davon zu Beginn der zweiten Konfliktphase – der Konfliktaustragung – sind Chaos, Ratlosigkeit und Unsicherheit. An diesem Punkt befinden wir uns zurzeit. Vorverhandlungen werden von der EU bislang ausgeschlossen. Also ist das nächste dramatisch relevante Ereignis die Antragsstellung. Wie könnte sich die zweite Phase des Konflikts nun weiter entwickeln und wie könnte sich der Konflikt in der dritten auflösen?
In der ersten Hälfte der zweiten Konfliktphase finden die Verhandlungen statt. An ihrem Ende sind die Verhandlungen abgeschlossen, Großbritannien ist ausgetreten und wieder unabhängig. Entscheidend für die Auflösung des Konfliktes in der dritten Phase ist seine Entwicklung in der zweiten Hälfte der zweiten Phase. Erlebt Großbritannien hier einen Aufschwung, dann werden die nationalistischen Kräfte der anderen Länder gestärkt. Am Ende dieser Phase – dem Übergang in die Konfliktauflösung der dritten Phase – beantragt das erste Land von ihnen ebenfalls den Austritt. In der dritten Phase stellen weitere Länder den Antrag und treten aus der EU aus. Im Höhepunkt der Story – in dem der Konflikt endgültig gelöst wird – löst sich die EU auf oder schrumpft auf eine Rumpf-EU zusammen. Das Europa, das die Europa-Befürworter heute anstreben, würde es jedenfalls niemals geben. Dieses Szenario ist natürlich rein hypothetisch und setzt voraus, dass die EU sich nicht oder nicht ausreichend reformiert. Genau darauf wird es in den nächsten Monaten und Jahren ankommen.
Geht es Großbritannien in der zweiten Hälfte der zweiten Konfliktphase immer schlechter, dann wird die Auflösung des Konfliktes eingeleitet, sobald es am Ende ist und wieder in die EU zurück will. In der dritten Phase werden dann die Verhandlungen geführt und im Höhepunkt ist Großbritannien wieder Mitglied der EU, der Konflikt damit aufgelöst.
Dieses letzte Szenario ist wahrscheinlicher. Denn dass es Großbritannien und seinen Bürgerinnen und Bürgern schlechter gehen wird, deutet sich jetzt schon an: Der britische Finanzminister George Osborne hat bereits die Erhöhung von Steuern und die Kürzung staatlicher Ausgaben angekündigt.
Das britische Pfund ist auf ein historisches Tief gesackt und die großen US-Ratingagenturen Standard & Poor’s und Fitch haben Großbritannien in ihrer Kreditwürdigkeit und Bonitätseinstufung abgewertet. Bei beiden Ratingagenturen ist der Ausblick negativ.
Auch die Aktien großer britischer Medienunternehmen sind eingebrochen und damit für Investoren interessant. So hat beispielsweise die Aktie des Privatsenders ITV über 20 Prozent verloren, sein Marktwert hat sich damit um zweieinhalb Milliarden Pfund verringert. Nennenswert erholt hat er sich seitdem noch nicht davon. Und damit läuft er Gefahr, von amerikanischen Medienunternehmen übernommen zu werden. Interessenten gibt es bereits. Auch das dürfte etwas sein, was die national gestimmten Brexit-Befürworter sicher nicht wollten.
Auch ein Zerbrechen Großbritanniens scheint nicht mehr ausgeschlossen: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon erklärte, dass sie ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anstrebe, um Schottland von Großbritannien zu spalten. Mit Fabian Picardo – dem Chief Minister von Gibraltar – hat sie sich bereits getroffen, um zu besprechen, wie Teile Großbritanniens in der EU gehalten werden können. Nordirland könnte demnächst zu diesen Gesprächen dazu stoßen. Dass Schottland, Gibraltar und Nordirland in der EU verbleiben, ist nicht ausgeschlossen. Mit Grönland gab es bereits einen solchen Fall: Das Land trat 1985 nach einem Referendum aus der EU aus während Dänemark Mitglied blieb. Nur ist Grönland nicht mit Großbritannien zu vergleichen.
Selbst Londons Bürgermeister Sadiq Khan will sich von Großbritannien abwenden. Er verlangt mehr Autonomie für die Hauptstadt, um die „Jobs, den Reichtum und den Wohlstand“ der Metropole in den kommenden, unsicheren Zeiten zu schützen.
Fazit: Erlebt Großbritannien nach seinem Austritt einen Aufschwung, werden die nationalistischen Kräfte der anderen Länder gestärkt. Das ist jedoch unwahrscheinlich. Geht es Großbritannien nicht schlechter als vorher, aber auch nicht besser, werden die Nationalisten ebenfalls gestärkt. Und sollte es Großbritannien schlechter gehen – was wahrscheinlich ist -, führt das ebenfalls zu ihrer Stärkung, da sie der EU die Schuld dafür in die Schuhe schieben können.
Konstruktionsfehler der EU
Es sieht also schlecht aus für die EU. Sofern sie den Brexit nicht als Warnschuss versteht und sich reformiert. Dazu muss sie sich zuerst einmal des gegenwärtigen zentralen Wertekonflikts bewusst werden, sich also klar machen, worum es zurzeit geht und dass wesentlich mehr auf dem Spiel steht als das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU – nämlich ihre eigene Existenz. Danach muss sie Fehlkonstruktionen in der Gestaltung der EU korrigieren, also ans System ran. Denn wenn eine demokratische Wahl wie die des Brexit-Referendums unabhängig von den Konsequenzen ihres Ausgangs antidemokratische Kräfte stärkt und damit negative Folgen für das demokratische System hat, innerhalb dessen die Wahl stattfindet, dann lässt das nur die Schlussfolgerung zu, dass es grundlegende Mängel in der Funktionsweise dieses Systems gibt.
Einer der Fehler, die in der Konstruktion der EU gemacht wurden, ist, dass der Integrationsprozess keine Rücksicht auf die Gefühle der Menschen nimmt oder sie falsch einschätzt. Der zweite Fehler ist, dass die Konstrukteure das „Ausatmen“ vergessen haben.
Tempodrosselung
Offensichtlich haben die EU-Konstrukteure unterschätzt, wie wichtig vielen Menschen die Werte Selbstbestimmung und Identität sind. Das hohe Tempo der Integration hat bei ihnen die Angst vor Kontroll- und Identitätsverlust hervorgerufen, und damit die Angst vor Fremdbestimmung, die sich in dem Gefühl ausdrückt, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, ohne dass sie gefragt werden geschweige denn mitentscheiden dürfen – Stichwort Demokratiedefizit.
Die Folge davon ist, dass der Integrationsprozess sie unnötigerweise in den Wertekonflikt „Zugehörigkeit zu einer großen pluralistischen Gemeinschaft“ versus „Selbstbestimmung und Identität in einer kleinen homogenen Gemeinschaft“ gestürzt hat. Verschärft wird dieser Wertekonflikt dadurch, dass sie in den letzten Jahren immer häufiger Erfahrungen machen, die dem Versprechen Europas auf ein besseres Leben zuwiderlaufen. Die EU wurde eben nicht wie im Lissabon-Vertrag als Ziel bestimmt „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“
Dadurch hat die zentrale Story der EU, durch eine immer tiefere Integration die Werte Gemeinschaft, Solidarität, Gerechtigkeit und mehr Wohlstand für alle zu realisieren, ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die logische Konsequenz daraus ist, dass viele Menschen den Werten Selbstbestimmung und Identität den Vorrang vor den Werten Zugehörigkeit und Solidarität geben – und deshalb nicht mehr in der EU sein wollen. Das ist der Umstand, der die nationalistischen Kräfte überhaupt erst hat entstehen und stärker werden lassen. Das Integrationstempo sollte also gedrosselt oder eine weitere Integration sogar vorerst gestoppt werden. Geschieht das nicht, wächst die Angst vor Kontroll- und Identitätsverlust weiter und die nationalistischen Parteien werden noch mehr Zulauf erhalten.
„Atmende“ EU
Das Tempo zu drosseln, wird jedoch nicht ausreichen. Zugleich muss die EU lernen, besser „auszuatmen“, um den Ängsten vieler Menschen vor Fremdbestimmung zu begegnen. Ausatmen bedeutet, dass nicht gleich Chaos und Ratlosigkeit ausbrechen, wenn ein Land aus der EU austreten will. Stattdessen ist eine atmende EU auf genau solche Fälle hin konzipiert: dass Länder eintreten und wieder austreten können und wieder eintreten und wieder austreten – je nachdem wie die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sich zu einer bestimmten Zeit entscheidet. Damit dreht sie die derzeitig herrschende Integrationsphilosophie um, die sich nur auf das Einatmen fokussiert, also auf eine tiefere Integration und die Aufnahme von immer mehr Ländern. In dieser Eindimensionalität haftet ihr etwas Wahnhaftes an, das Kategorische einer jeden Gesinnungsethik. Dadurch wird ihre Struktur starr. Und diese Starrheit ist einer der Auslöser der Ängste vieler Menschen.
Zwar ist in Artikel 50 des Vertrags von Lissabon aus dem Jahr 2007 erstmals der freiwillige EU-Austritt eines Mitgliedsstaates geregelt – „(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.“ – aber offensichtlich ist die Regelung nicht konkret genug oder funktioniert nicht, wie die Planlosigkeit auf allen Seiten nach dem Referendum über den Austritt Großbritanniens gerade zeigt.
Lediglich funktionierende Regelungen und Mechanismen für das Austreten aus der EU zu installieren, wird ebenfalls nicht reichen, um die verloren gegangene Glaubwürdigkeit wieder herzustellen. Um die Menschen in die EU einzubinden – also Identifikation mit der EU zu erzeugen – muss das Ausatmen durch einen Automatismus ergänzt werden, der alle – sagen wir mal – 20 Jahre ein Referendum über den Verbleibt eines Landes in der EU vorsieht: Wollt Ihr bleiben oder wollt Ihr raus? Wollt ihr Gemeinschaft oder Selbstbestimmung?
Nicht realisierbar? Einfach dürfte es vielleicht nicht sein. Die EU müsste neu gedacht werden. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir ausreichend schlaue Köpfe haben, die so etwas umsetzen können. Die Vorteile sollten jedenfalls einen Versuch wert sein: Denn eine atmende EU und ein Referendums-Automatismus würden den Antagonismus zwischen Zugehörigkeit und Selbstbestimmung auflösen. Und damit würde den nationalistischen Parteien komplett der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Denn wenn Bürgerinnen und Bürger wissen, dass es ein Zurück geben kann und sie in regelmäßigen Abständen befragt werden, würden die Storys der Nationalisten ihre Anziehungskraft verlieren. Für eine Politik, die sich an dem orientiert, was die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler will, gibt es übrigens einen Namen: Demokratie.
Außerdem müssten die EU-Befürworter bei der permanenten Weiterentwicklung der EU viel mehr die Bedürfnisse und Ängste der Menschen ernst nehmen und könnten nicht wie bisher an ihnen vorbei konstruieren. Und sie müssten sich mehr anstrengen, ihnen glaubhaft zu vermitteln, dass ein Leben in der EU tatsächlich besser ist als außerhalb, und das nicht nur in ökonomischer Hinsicht; dass die EU eine EU für die Menschen ist und keine der Institutionen oder eine Profitmaximierungsmaschine für die Wirtschaft. Gelingt ihnen das nicht, dann deshalb, weil diese Vorteile nicht existieren. Dann aber brauchen wir auch keine EU.