Die Drei-Akt-Struktur einer dramatischen Erzählung hat zwei entscheidende Momente: Die Wechsel vom ersten in den zweiten und vom zweiten in den dritten Akt. Sie haben in verschiedenen Drehbuchtheorien verschiedene Namen und verschiedene Beschreibungen, ich möchte hier eine Beschreibung anbieten, die sich für mich am hilfreichsten erwiesen hat. Denn diese Momente sind nicht nur entscheidende Momente, es sind Momente der Entscheidung.
Die beiden Momente, von denen ich spreche, heißen mal Wendepunkt, mal Plot Point, Glückswechsel, Peripetie, oder Überschreiten der Schwelle. Die Bezeichnung Plot Point, die etwa Syd Field hierfür nutzt, vermeide ich, denn sie ist von allen genannten Möglichkeiten die, die nichts über eine mögliche dramaturgische Funktion aussagt; ›Punkte‹ im Plot gibt es außerdem viele. Die Peripetie nach Aristoteles und die abgeleitete Bezeichnung Glückswechsel beschreiben einen »Umschlag dessen, was erreicht werden soll«. Unabhängig davon, dass Aristoteles auch nur von einer Peripetie spricht, nicht von zweien, führt für mich solch ein Glückswechsel nicht notwendig in einen nächsten Akt, hier kann die Geschichte auch einfach schnell zu Ende sein.
Der nächste Akt beginnt viel mehr dann, wenn der Protagonist, der einen solchen Glückswechsel von Glück in Unglück erfährt, dagegen handelt. Von den oben genannten Bezeichnungen enthält nur das Überschreiten der Schwelle aus Joseph Campbells Monomythos und Christopher Voglers Heldenreise eine Handlung. Ich spreche gern vom ›Sprung über die Schwelle‹, weil ›Sprung‹ noch mehr als das ›Überschreiten‹ eine Absicht impliziert, außerdem eine Anstrengung, und weil es an den ›leap of faith‹ erinnert, den Vogler und/oder Campbell in diesem Zusammenhang beschreibt: Ein Sprung des Glaubens oder Vertrauens, den wir im Deutschen deutlich öder mit Vertrauensvorschuss übersetzen können.
Der Sprung über die Schwelle ist eine Entscheidung zum Handeln.
Ich nutze zugegeben selbst meist den Begriff Wendepunkt, hier auf filmschreiben beispielsweise oder in der Stoffentwicklung, obwohl ich ihn sogar fast irreführend finde. Er behauptet einen eindeutigen geometrischen Platz auf der Kurve, mit der wir oft Glück und Unglück des Protagonisten über den Verlauf der Handlung darstellen. Eine solche Wende findet meiner Ansicht nach jedoch schon in der Entscheidungsfindung statt und nicht erst in der Entscheidung selbst, und erst die ist ja der Aktwechsel. Dass ich ›Wendepunkt‹ dennoch verwende hat den simplen Grund, das er wohl fraglos der üblichste Begriff ist, und es auch für ein tieferes dramaturgisches Verständnis erst einmal eine Verständigung darüber braucht, über welchen Schritt der Handlung wir eigentlich sprechen.
Es gibt diese Wendepunkte, es gibt diese Peripetien (Plural!) (und sowieso gibt es viele Schritte einer Handlung, die wir als Plot Points bezeichnen können), sie stellen nach meinem Verständnis jedoch nicht den jeweils nötigen Schritt in den nächsten Akt dar. Das tut der Sprung über die Schwelle. Die Schwellen sind dabei die Grenzen zwischen den Akten. Dieser Sprung ist eine Entscheidung, eine Entscheidung zum Handeln, und zumindest im Englischen ist das für diesen Zweck sehr eingängig: Der Wechsel zwischen den Akten ist dann eine ›decision to act‹, wenn wir so wollen (ich will) eine ›decision to Act II‹ und eine ›decision to Act III‹.
Es ist die Entscheidung für ein Ziel und vor allem für die nötige Handlung, die nötige Anstrengung, dieses Ziel zu erreichen. In dieser Entscheidung zeigt sich die Motivation der (im doppelten Wortsinn) entscheidenden Figur, und darin ihr Charakter: Dieses Ziel ist ihr wertvoller als mögliche andere Ziele, und dieses Ziel ist ihr wertvoller als die nötige Anstrengung und die dabei aufgewendeten Ressourcen (ihre Kraft, ihre Zeit, ihr Geld, ihre Gesundheit, etc.). In dieser Entscheidung und ihrer Motivation zeigt sich außerdem eine Erwartung an den nächsten Akt, die nun auch das Publikum an die Erzählung haben wird, und noch einmal der Charakter der Figur: Unsere Erwartungen sind Ergebnis der Erfahrungen, die wir gemacht haben, und zeigen unseren Blick auf die Welt und den Menschen. Die Entscheidung einen Menschen um Hilfe zu bitten beispielsweise offenbart ein Weltbild, in dem andere Menschen hilfsbereit sind, und lässt auf die Erfahrung schließen, das Menschen in der Vergangenheit der Figur hilfsbereit waren.
Die schwierige Entscheidung hat mehr erzählerische Kraft.
Desto größer die Anstrengung und der zu erwartende Verbrauch der eigenen Ressourcen ist, desto besser zeigt sich der Charakter der Figur im Unterschied zu anderen Figuren oder dem Publikum selbst. Während sich wohl viele Menschen bücken würden, um einen Zehn-Euro-Schein aufzuheben, wären wenige bereit, für den selben Betrag einen Berg zu erklimmen. Das selbe gilt für möglichst wertvolle alternative Ziele: Während die Entscheidung für den Gewinn eines teuren Sportwagens und gegen den Gewinn eines Spielzeugautos wohl unabhängig vom eigenen Charakter gefällt werden kann, zeigen sich bei der Wahl zwischen einem Sportwagen und einer Weltreise persönliche Wertschätzungen. Eine schwierigere Entscheidung hat also mehr erzählerische Aussagekraft.
Dasselbe gilt etwa, wenn das Weltbild der Figur bereits (durch andere Entscheidungen) etabliert ist, sich die Figur aber wider ihres Weltbildes verhält: Einen Menschen um Hilfe zu bitten mit der Überzeugung fremde Menschen seien hilfsbereit ist einfach – mit der Überzeugung, fremde Menschen seien feindselig, ist es aber schwer und kommuniziert dem über den Charakter der Figur informierten Publikum die besondere Dringlichkeit des Ziels. Dieses Handeln wider des Weltbildes, das ja auch eine Bereitschaft zum Zweifel am eigenen Weltbild voraussetzt, eine Bereitschaft zur Veränderung, ist Ausdruck einer Charakterentwicklung und gehört damit weniger zur ersten und mehr zur zweiten großen Entscheidung der Geschichte, zur ›decision to Act III‹. In jedem Fall gilt wieder: Die schwierige Entscheidung hat mehr erzählerische Aussagekraft.
Eine gute Entscheidung muss gut vorbereitet sein. In Monomythos und Heldenreise ist es im ersten Akt vor dem Sprung über die erste Schwelle der Ruf zum Abenteuer, der die Notwendigkeit einer Entscheidung ankündigt. In anderen Modellen ist es die Störung (die ebenfalls viele Namen hat: Erregendes Moment, Catalyst, etc.) bzw. das Bewusstwerden der Figur über die Störung, welches ja verzögert geschehen kann. Entsprechend meiner Erklärung zu Beginn des Artikels entspricht dieser Ruf und diese Störung vielleicht am ehesten dem ersten Glückswechsel bzw. der ersten Peripetie. Die Figur verweigert sich anschließend dem Ruf, denn schwere Entscheidungen, also Entscheidungen für große Anstrengungen und gegen vieles, was wir wertschätzen, sind nun mal genau das: schwer. Und niemand trifft sie gern.
Im Glauben an den Erfolg steckt der ›faith‹ des ›leap‹.
Die Figur muss schließlich erkennen, dass sie sich der Entscheidung nicht verweigern kann und ein Mentor versucht ihr den notwendigen Schritt mit seiner (übernatürlichen) Hilfe zu erleichtern. Er versucht die Schwelle vom ersten in den zweiten Akt zu senken. Denn umso sicherer die Figur ist, mit ihrer Anstrengung das Ziel tatsächlich auch zu erreichen, also umso geringer das Risiko ist die eingesetzten Ressourcen zu verlieren ohne das Ziel zu gewinnen, desto einfacher wird die schwierige Entscheidung. Gehört zu der Anstrengung, zu der ich mich bereit erklären soll, ein Schwertkampf, erleichtert es meine Entscheidung spürbar, wenn mir jemand ein Schwert schenkt und ankündigt, mich im Kampf zu unterrichten. Bei Dramaturgin Laurie Hutzler gibt es das auch weniger mythisch: Wenn mir einfällt (oder eingegeben wird), wie ich das Ziel erreiche, indem ich mich auf meine Stärken verlasse, ist die Entscheidung deutlich einfacher als noch zuvor, als ich nämlich dachte, es bräuchte dafür Fähigkeiten, die ich mit zweifelhaftem Erfolg erst noch erlernen müsste oder schlimmer: Fähigkeiten, die ich schon einmal ausprobiert habe und mit denen ich gescheitert bin. (In dieser Hilfe bzw. diesem Einfall findet meiner Meinung nach dieser geometrische Wendepunkt statt.)
Das muss jetzt irritieren: Warum soll die gerade noch als erzählerisch stark gelobte schwere Entscheidung plötzlich vereinfacht werden? Das hat mit der Glaubhaftigkeit der Figur zu tun. Zur Motivation gehört, wie oben beschrieben, die Erwartung an das Ziel der Handlung. Bin ich überzeugt, mir könne niemand helfen, bitte ich gar nicht um Hilfe. Die Figur muss also an eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges glauben, sonst würde sie das Opfer der anderen möglichen Ziele und ihrer Ressourcen gar nicht erst bringen. In diesem Glauben an den möglichen Erfolg steckt der ›faith‹ des oben beschriebenen ›leap of faith‹: der Vertrauensvorschuss, der nötig ist um eine Anstrengung vor uns zu rechtfertigen. Der Mentor erzeugt ein solches Vertrauen, zum Beispiel in die (übernatürliche) Hilfe, die er anbietet. Bei Hutzler ist es hingegen das Vertrauen der Figur in sich selbst und ihre Stärken.
Was die Entscheidung im zweiten Akt betrifft, meine ›decision to Act III‹, unterteilt beispielsweise Dramaturgin Linda Aronson ihren ›second-act turning point‹ in zwei Teile: in ›the worst moment‹ und die ›decision to fight back‹. Der Tiefpunkt der Erzählung, an dem die Figur ihres nahen Erfolges beraubt wurde und das Überwinden des gegebenen Problems zur Erreichung des Zieles unmöglich scheint, scheint identisch mit Aristoteles‘ Peripetie oder, wenn man es genau nimmt, auf diesen »Umschlag dessen, was erreicht werden soll« direkt zu folgen. Und wie schon oben beschrieben muss die Figur nun reagieren. Aronson schreibt: »You have to turn your protagonist into a fighter. The protagonist, bruised and battered, has to decide to fight back against impossible odds.« Und während ich das ›impossible‹ aufgrund des beschriebenen Wesens von Motivation doch anzweifeln möchte, ist auch in meinem Verständnis dieser beiden Schwellen- und Glaubenssprünge der zweite ein größerer, riskanterer.
Im Verhältnis der Entscheidungen zueinander passiert die Geschichte.
Monomythos und Heldenreise verzichten auf einen helfenden Mentor vor der zweiten Schwelle, bei Hutzler muss die Figur hier auf ihre Stärken verzichten und sich auf Fähigkeiten verlassen, die ihr noch fremd sind, die sie vielleicht bisher sogar für Schwächen gehalten hat. Darin zeigt sich die Charakterentwicklung: Während die Figur vorher nur nach der Erfüllung bestimmter Bedingungen bereit war, die Schwelle zu überspringen, verzichtet sie hier auf diese Sicherheiten. Ihr Vertrauen, wenn sie springt, gilt nicht mehr fremder Hilfe oder einem zu einfachen Bild von sich selbst, sondern einer erfahrenen Einsicht in das was falsch war, und das, was richtig ist. In diesem Sprung erst beweist sie wahren Mut. In diesen dritten Akt geht sie nackt, ohne ihre Maske, ihre Rüstung aus Stärken, die sie noch bis zur Katastrophe im zweiten Akt aufrecht erhalten konnte. Wer Spaß an Eselsbrücken hat, kann den dritten Akt also auch als Nacktportrait begreifen.
Ich finde es überraschend, dass die Vorbereitung beider Entscheidungen oft so unterschiedlich verstanden werden obwohl sie doch so ähnlich sind. Einen Ruf zum Abenteuer gibt es entgegen des Heldenreisenmodells auch im zweiten Akt, dieser Ruf, die Störung bzw. das Bewusstwerden über diese Störung ist hier die Katastrophe, die in den Tiefpunkt führt. Aronson beschreibt ihren ›first-act turning point‹ ganz anders als den zweiten und versteht unter dem ersten bloß die Störung, wie es ja auch die Peripetie und der Begriff des Wendepunkts vermuten lassen. Und die Implikation der Heldenreise, dass es im zweiten Akt keinen Mentor geben soll, stimmt so auch nicht, nur anders als im ersten Akt drängt sich diesmal keiner auf, sondern der Protagonist öffnet sich in seiner Verzweiflung von sich aus der Welt. Hier wendet er sich an die Figur, die ihm emotional am nächsten steht (oft: das ›love interest‹, d.h. der B-Plot löst hier seine Funktion ein) und diese Sensibilisierung macht die genannte Einsicht über das, was falsch war, und das, was richtig ist, erst möglich.
In diesen beiden Entscheidungen, in der ›decision to Act II‹ und der ›decision to Act III‹ und ihrem Verhältnis zueinander passiert die Geschichte. Die Entwicklung von der ersten zur zweiten Entscheidung und die dafür nötige Handlung aus der final motivierten Anstrengung des Protagonisten und den kausal resultierenden Konsequenzen ist der zweite Akt, ist der Plot der Geschichte. Der Unterschied zwischen den Entscheidungen und die Erkenntnis im Tiefpunkt, auf die dieser Unterschied hinweist, ist ihre Aussage. Das Verständnis der beiden Entscheidungen und ihrer Vorbereitung (als auch ihrer Nachbereitung, die Campbell etwa mit dem ›belly of the whale‹ bedenkt, die ich hier aber vertage) schafft ein Verständnis der ganzen Geschichte und des ganzen Geschichtenerzählens – und vielleicht sogar ein Verständnis der Entscheidungen der Autorin oder des Autoren während des Erzählarbeit.
Oh Mann, viel Theorie. Ich frage mich, ob man zum kreativen Schreiben das alles braucht.
Meine Lieblingsstelle ist die mit der Vereinfachung.
Was bedeutet Dreiaktigkeit? – Nach Aristoteles doch wohl nur so was wie Anfang, Mitte und Ende. Der Klassiker, für alles, was in der Zeit abläuft. Oder Exposition, Durchführung und Auflösung. Begrifflichkeit aus der Musik, aber doch hilfreich für Schreiben jeglicher Form. Klassische Dramen waren fünfaktig. Bis zu Goethe und Schiller. Man verlangte das von ihnen einfach. Komödien dreiaktig. Warum? Modernere Dramen sind vieraktig. Fields erweitertes Schema mit dem sogenannten Midpoint könnte man auch als vieraktig ansehen: II.Akt a und b.
Wenn ich berate und coache, rate ich immer schreib doch mal, wenn Du genügend überlegt hast, rate auch zu Zeichnungen, ein Bildertreatment = den Film ohne Dialoge.
So, und dann lege mal eines dieser Schemata drauf. Das hilft Dir mehr als wenn Du dich schon vorab unter Zwang setzt und die vier Punkte oder gar die zwölf der Heldenreise ansteuern musst. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum Filme oft so vorhersehbar gleichförmig sind. Ein Beispielfür das Gegenteil: gestern lief im ZDF ein Highlight der diesjährigen TV-Produktion: AUFBRUCH IN DIE FREIHEIT. Wenn man mich fragt, was das für eine Struktur ist, dann fällt mir ein ganz einfaches Bild ein: Das Anziehen einer Schraube ohne Nachzulassen. So ein Bild hilft doch beim Schreiben, oder?
Aber noch was: Akte, drei, vier oder fünf helfen einem die Arbeit zu portionieren, Etappenziele zu haben. 90-120 Minuten sind sonst einfach ein viel zu hoher Berg…
Würde mich über Widerspruch freuen.
Widersprechen möchte ich nicht, dramaturgische Modelle sollten immer Angebot und niemals Zwang sein. Ich habe bei der Beratung von Autorinnen und Autoren, und bei der eigenen erzählerischen Arbeit gemerkt, dass mir diese zwei großen Entscheidungen als Laternen im Dunkel der unfertigen Geschichte sehr weiterhelfen. Wenn ich die Entscheidungen verstehe, allgemein in ihrer dramaturgischen Funktion und speziell in den individuellen Entscheidungen meiner Figur, kann ich sehr gut auf sie hinarbeiten. Mindestens die erste Entscheidung sollte dabei klar sein, um die Anstrengungen im zweiten Akt erzählen zu können, die zweite Entscheidung darf sich dann auch gern erst noch ergeben. Eine gute erste Entscheidung weist den Weg zu ihr hin und von ihr weg. Das hilft.
Dadurch, dass die zweite Entscheidung und damit ein dritter Akt erst durch eine Erkenntnis ermöglicht werden muss, arbeite ich für gewöhnlich mit drei Akten. Mehr Erkenntnisse (die sich dann bis zur letzten ja ständig wieder als falsch herausstellen müssten) halte ich für eine (dramatische) Geschichte schwierig. Andere Modelle mit mehr Akten ordne ich dem dann unter. Klar kann man die drei Akte in noch mehr unterteilen, das sind dann in meinem Verständnis aber Unterkapitel eines gemeinsamen Aktes. Wie in den Eight Sequences, da habe ich die ersten beiden Sequenzen des zweiten Aktes als „First Try“ und Try Harder“ kennengelernt. Das sind dann verschiedene Anstrengungen, keine Frage, aber es sind Anstrengungen in die selbe Richtung. Zwischen beiden Sequenzen hat keine Erschütterung der Figur stattgefunden, und es hat keine neue Entscheidung gegeben.