Konflikt ist eine der tragenden Säulen jeder dramatischen Erzählung. Die Drehbuch-Gurus dieser Welt sind sich einig: Kein Drama ohne Konflikt. Einige gehen sogar noch weiter und sagen: Drama IST Konflikt. Allein, dieses vermeintlich so einfache Konzept ist manchmal nur schwer zu greifen. Konflikt kann etwas sehr Abstraktes sein. Und wenn wir unsere Suche allzu schematisch betreiben, dann kann es wohl passieren, dass wir mit einer jener High-Concept-Ideen enden, die man zwar als eine kreative Leistung bezeichnen könnte, der aber ein entscheidendes Element fehlt: ein emotionaler Kern, mit dem wir uns als Zuschauende spontan verbinden können.
Das Was und das Wie einer Geschichte
Hier ist das Problem: Die meisten Handbücher beschäftigen sich mit dem Wie einer Erzählung. Sie bieten Lösungen an, wie wir unsere Geschichte in drei, vier, fünf oder sieben Akte einteilen können oder in acht Sequenzen oder in 11 oder 17 Stufen oder in 22 Schritte. Oder wie wir aus zwei, drei, vier, sieben, 1o, 20 oder gar 36 Masterplots auswählen können. Selbst das vermeintlich so tiefsinnige Modell der Heldenreise ist letztlich eines, das sich mehr mit der äußeren Form einer Geschichte beschäftigt, als mit ihrem Inhalt.
Und auch das Konflikthafte einer Erzählung ist eben letztlich nicht ihre Essenz. Konflikt ist, was das Drama ausmacht, aber der Konflikt ist nicht die Geschichte.
Um zum emotionalen Zentrum, dem Was einer Geschichte, vorzudringen, müssen wir eine Antwort auf die Frage finden, was eine Geschichte überhaupt ist. Für uns ganz persönlich.
Versuch einer Definition
Ich möchte an dieser Stelle keine allgemeingültige Definition vorschlagen, dich sich mit wissenschaftlichen Methoden verifizieren liesse. Aber ich möchte eine Definition vorschlagen. Entstanden ist sie aus einem lebhaften Dialog mit einem befreundeten Autor, den ich seit gut einem Jahr einmal pro Woche führe. Dieser Dialog bewirkt, dass ich es mir inzwischen zur Gewohnheit gemacht habe, alles was ich über das Schreiben von Drehbüchern zu wissen glaube, immer wieder aufs Neue infrage zu stellen und selbst den grundlegendsten Konzepten der Dramaturgie mit Skepsis zu begegnen.
Geschichten über Geschichten
Ich tue das, weil ich glaube, dass über das Thema Dramaturgie noch längst nicht alles gesagt wurde und dass es falsch wäre zu glauben, dem könnte so sein. Aus meiner Sicht erzählen Dramaturgien Geschichten über Geschichten, nicht Wahrheiten über Geschichten. Und das ist auch mein Selbstverständnis als Dramaturg: Würde ich an einer Wirklichkeit jenseits einer erzählten Wirklichkeit glauben, wäre ich kein Autor geworden, sondern Wissenschaftler. Für mich aber sind Geschichten kein Anhängsel an die Realität, sie sind die Realität.
Doch zurück zu der Frage: Was ist eine Geschichte? Und zu meinem Versuch einer Definition:
Eine Geschichte ist ein Ereignis, das einen Verstoß gegen die Werte und Normen einer Gemeinschaft darstellt oder durch einen solchen ausgelöst wird – und der deshalb in aller Regel ein sofortiges Eingreifen erforderlich macht.
Soll ich es noch einmal wiederholen?
Eine Geschichte ist ein Ereignis, das einen Verstoß gegen die Werte und Normen einer Gemeinschaft darstellt oder durch einen solchen ausgelöst wird – und der deshalb in aller Regel ein sofortiges Eingreifen erforderlich macht.
Beispiele
Ich möchte meine These zunächst an einigen Beispielen überprüfen, und zwar willkürlich an den letzten 5 Spielfilmen, die ich gesehen habe. Ich beschränke mich in diesem Artikel auf Spielfilme. Wie ich später noch zeigen möchte, lässt sich meine Theorie aber auch ohne Weiteres auf Drama-Serien, Romane, Märchen etc. anwenden. Die letzten fünf Filme, die ich gesehen habe, sind: FROST/NIXON, THE MEYEROWITZ STORIES, 127 HOURS, THE LOST WEEKEND und SPOTLIGHT.
FROST/NIXON
FROST/NIXON handelt von jenem legendären TV-Duell, bei dem ein britischer Gameshow-Moderator, der in der Szene nicht gerade den Ruf genießt, ein politisches Schwergewicht zu sein, dem in Folge des Watergate-Skandals bereits des Amtes enthobenen US-Präsidenten Richard Nixon das Schuldeingeständnis abringt, auf das eine ganze Nation bisher vergeblich gewartet hat.
Der „Verstoß“, der hier stattgefunden hat und der noch auf eine Art ausgleichende Gerechtigkeit wartet, ist nicht so sehr die Watergate-Affäre selbst bzw. der Machtmissbrauch, dessen sich Richard Nixon schuldig gemacht hat, sondern vielmehr die Tatsache, dass Nixon diese seine Schuld bis dahin nie öffentlich eingestanden hat. Das ist der moralische Verstoß, den wir als Zuschauende auch heute, fast 45 Jahre später, noch ohne Weiteres nachvollziehen können, selbst ohne politische Vorkenntnisse.
Der (sehr viel komplexere) Konflikt, der sich daraus ergibt, ist der eines Mannes (Frost), der erst sehr spät erkennt, welche gewaltige Verantwortung er selbst auf seine Schultern geladen hat und der sich dann mit einem Gegner auseinandersetzen muss, der mit allen Wassern gewaschen ist und dem ein Talkshow-Host, wie es scheint, nicht viel entgegenzusetzen hat.
Kommen wir zu unserem nächsten Beispiel:
THE MEYEROWITZ STORIES
Das episch erzählte Comedy Drama von Noah Baumbach erzählt von einem Vater, der mit seinen irrigen Ansichten über sich selbst, die Welt und seine Mitmenschen seine drei erwachsenen Kinder immer wieder auf eine harte Probe stellt, allen voran Adam Sandler in der Rolle des ältesten Sohnes Danny, der zwischen Loyalität und Abgrenzung schwankt und sich bis zuletzt immer wieder für die falsche Seite entscheidet.
Es ist nicht leicht, auf Anhieb Dannys Optionen zu sehen. Es scheint, als hätte er keine. Deswegen dauert es eine Weile, bis wir erkennen, welchen Konflikt er eigentlich austrägt. Was jeder Zuschauende jedoch auf den ersten Blick versteht: Kein Kind auf der Welt hat einen Vater wie Harold Meyerowitz verdient, so schrullig und irgendwie liebenswert er auch als Figur gezeichnet sein mag.
Komplizierter, abstrakter Konflikt trifft auf einfaches, klares Gefühl. Der „Verstoß gegen die Werte und Normen einer Gemeinschaft“ ist übrigens immer auch ein Verstoß gegen unsere eigenen Werte und Normen. Mit anderen Worten: Wir, die Zuschauenden, sind ein Teil dieser Gemeinschaft.
127 HOURS
Das Survival-Drama von Danny Boyle und Simon Beaufoy (SLUMDOG MILLIONAIRE) nach einer wahren Begebenheit erzählt von einem Bergwanderer, der in der Abgeschiedenheit Utahs in eine äußerst missliche Lage gerät: Nach einem Sturz hat ein Felsklotz seinen rechten Arm eingeklemmt und er kann sich nicht selbst befreien.
Wieder dauert es bis fast zum Ende, bis wir überhaupt verstehen können, dass der Protagonist hier durchaus eine Wahl hat, wenn auch zugegeben keine sehr einfache. Doch die Härte, mit der „das Schicksal“ ihn zu Anfang für seinen Leichtsinn bestraft, sie scheint uns übertrieben und ungerecht. Würde stattdessen Frank Underwood aus HOUSE OF CARDS in denselben Abgrund stürzen, würden wir seinem Bericht wohl kaum mit demselben Maß an Empathie lauschen. So aber sind wir ganz auf der Seite unserer Hauptfigur und wünschen ihr nichts sehnlicher als eine zweite Chance.
THE LOST WEEKEND
Das Alkoholiker-Drama von Charles Brackett und Billy Wilder erzählt von der nicht enden wollenden Selbstdemütigung eines Alkoholikers, der sich in immer neue Lügen verstrickt und alle Menschen vergrault, die es gut mit ihm meinen, und das alles nur aus einem einzigen Grund: um weiter ungestört saufen zu können.
Es ist weniger die Sorge um die Gesundheit des Protagonisten, die uns hier umtreibt. Der Verstoß der Protagonisten besteht vielmehr darin, dass er sein eigenes Potenzial verneint, als Mensch und als Schriftsteller, und dass er sich stattdessen lieber selbst zugrunde richtet. Das ist der Teil, den wir nur schwer ertragen können.
SPOTLIGHT
Unser letztes Beispiel handelt von einer Gruppe investigativer Journalisten des „Boston Globe“, die, ausgehend von einer Reihe von Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche in Boston, einem Skandal auf die Spur kommen, dessen Ausmaß und Systematik all unsere schlimmsten Befürchtungen übersteigt. Wenn es normalerweise heißt: „The sky is the limit“, muss es hier heißen: „Not even the sky is the limit“, denn selbst Gottes Vertreter auf Erden, die Kirchenväter im Vatikan, sind in den Skandal verstrickt.
Man muss kein Atheist sein, um das himmelschreiende Unrecht zu erkennen, dass hier stattfindet: Ein systematischer physischer und psychischer Missbrauch von Schutzbefohlenen durch die, die eigentlich für das Seelenheil dieser Menschen verantwortlich sein sollten.
Diese Beispiele scheinen zu belegen, dass der emotionale Kern einer Geschichte tatsächlich in einem Verstoß gegen die Werte und Normen einer Gemeinschaft besteht, wie eingangs von mir behauptet.
Natürlich bedarf meine These weiterer Überprüfung und wie bereits angekündigt, will ich einem meiner nächsten Artikel zeigen, dass sie sich auch ohne Weiteres auf horizontal erzählte Fernsehserien anwenden lässt.
Bis dahin aber seid Ihr gefragt. Was haltet Ihr von meiner Definition? Stimmt sie? Hilft Sie Euch, Euch leichter mit dem emotionalen Kern Eurer Geschichte zu verbinden? Für welche Geschichten funktioniert die Theorie noch und für welche funktioniert sie weniger gut? Euer Feedback könnt Ihr wie immer hier direkt in den Kommentaren oder auch auf Facebook hinterlassen. Jede Antwort wird gehört, solange sie mit Respekt und Wohlwollen vorgetragen wird. Andernfalls wird sie als „Verstoß“ geahndet und mit Nicht-Beachtung gestraft.
Hallo,
finde die Definition für eine Geschichte als Ansatz richtig, aber sie berührt nicht das Wesentliche. Wofür die Definition steht, beschreibt sie selbst mit ihren eigenen Worten: als ´Ereignis´, das eine Geschichte ´auslöst ´.
Ich würde als das Wesentliche einer Geschichte den moralischen Aspekt sehen. Also die Moral, bevor sich der Begriff als Klischee abgenutzt hat. Tatsächlich ist es doch der moralische Aspekt, der eine Dokumentation von einer Geschichte unterscheidet und Moral ist in jeder Geschichte zu finden. Mal fordert sie uns nicht auf, zu reflektieren und darüber nachzudenken, uns in Empörung versetzen zu lassen oder mit dem Unrecht, das der Held erleiden muss, mitzuleiden. Mal ist sie nur der Sieg des Guten über das Böse, völlig unmissverständlich. Aber mal kann sie auch sehr verborgen sein, so sehr, dass man ihre Anwesenheit nur spürt ohne sie genau benennen zu können. „Spotlight“ z.B. nimmt sich der Moral gleich auf mehreren Ebenen an: zum einen ist die Empörung, ja quasi der Schock am größten, wenn die Kirche als höchste moralische Instanz auf Erden, in der denkbar extremsten Weise als unmoralisch entlarvt wird und im Hintergrund die Moral der Geschichte aber darin liegt, dass selbst eben die höchste moralische Instanz auf Erden nicht über der Moral selbst steht.
Es mag abgedroschen klingen, aber für mich macht die Moral eine Geschichte aus.
Gefällt mir – auch der Kommentar. Endlich kommt man mal von den formalen Punkten der meisten dieser Guru-Bücher weg und rückt das Wesentlichere in den Vordergrund. Es geht immer mehr um unsere SOZIALEN Beziehungen als Heldentum und Heldenreise, wo das Individuelle überbetont ist.
Wenn künstlerische Intuition „Zeitgeistiges“ sehr früh erspürt, dann passt das gut zu den Entwicklungen, die sich momentan auf der ganzen Welt zeigen. Da geht es plötzlich auch stärker wieder um Moral, Werte und Normen. Übrigens: ein Blick in Dramengeschichte bestätigt das ebenfalls. Immer wieder hatte das Hochkonjunktur.
Den Bruch mit vorherrschenden Moral-, Werte- und Normbegriffen würde ich nicht nur dem Drama zu eigen sehen, sondern auch der Komödie. „Mr. Bean“ ist ein herrliches Beispiel dafür.
Vielleicht liegt in diesen Begriffen unser Grundverständnis von uns selbst als Individuum wie auch dem Miteinander. Wenn der Kontext die Geschichte ist, kann der Bruch sowohl zum Drama wie auch zur Komödie führen.
Als „Mode“ mit Hochkonjunktur, um es etwas zu überspitzen, würde ich die Begriffe nicht sehen. Vielmehr erfüllen Geschichten einen Bedarf daran, die Vorstellung von den Begriffen und ihre Existenz neu auszuloten, immer dann am stärksten, wenn sie zeitgeistig verschüttet scheinen.
Für mich trifft die Definition den Nagel auf den Kopf und ich bin sehr glücklich, auf diesen Artikel gestoßen zu sein. Über die letzten 2 Jahre habe ich mich darin geübt, eine Geschichte mehr zu erspüren und aufzudecken, als zu erfinden. Dabei sind unzählige und faszinierende Facetten aufgetaucht. Aber der ganze Wust an beeindruckenden Entdeckungen half mir nur wenig, das Drehbuch in die Produktion zu hieven. Denn erst ganz zum Schluss fiel mir auf, dass ich eine Frage noch nicht mit aller notwendigen Klarheit beantworten konnte: Warum ich den Film machen will.
Also kann ich auch nur mit viel Mühe und vielen Worten versuchen, potentielle Unterstützer mit ins Boot zu holen.
Dabei hatte ich bereits den emotionalen Kern der Geschichte entdeckt und zwar, wie Du beschreibst, in einer für mich schreienden Ungerechtigkeit: in meiner Recherche stieß ich auf das Foto eines ertrunkenen Flüchtlingskindes, das wie schlafend am Meeresufer liegt. Mit der ersten wütenden Träne wusste ich, dass dies die eigentliche Grundmotivation für meine Geschichte ist.
Allerdings konnte ich erst durch Deinen Artikel erkennen, dass an die Erkenntnis einer Ungerechtigkeit bzw. eines moralischen Misstandes, die dem Helden wiederfahren muss, gleichermaßen die Erkenntnis seiner Verantwortung und seines Potentials, für eine Verbesserung der Umstände einzutreten gekoppelt ist. Erst dadurch entsteht für ihn – und parallel für mich, den Filmemacher – die Motivation, die ihn aktiviert und handeln lässt.
Ich glaube, jetzt einen wesentlichen Schlüssel für die Arbeit mit Geschichten in meiner Werkzeugkiste zu haben. Dafür vielen Dank!
Alles Liebe und bitte weiter so.
V
http://www.handlicht.jimdo.de