Zur Dramaturgie von YouTube-Videos

Es ist nicht möglich, von einem YouTube-Video zu sprechen und alle YouTube-Videos zu meinen, genauso wenig wie es möglich ist von einer Fernsehausstrahlung zu sprechen und dabei gleichzeitig alle dramatischen und epischen, fiktionalen und nonfiktionalen, journalistischen und boulevardjournalistischen, seriellen und mini-seriellen und nicht-seriellen Inhalte zu meinen. Dennoch bietet die Film- und Fernsehdramaturgie einen Ansatz, der für jedes Fernsehformat und auch für YouTube-Videos angepasst und angewendet werden kann. Allen diesen denkbaren Formaten sowohl online als auch offline ist nämlich gemein, dass sie ihr Publikum interessieren wollen bzw. wollen sollten.

Dieser Artikel hat zwei Anlässe: Zum einen der Vortrag YouTube and beyond. Nützt Dramaturgie denn gar nichts? des Kollegen Jonas Ulrich bei der letzten FilmStoffEntwicklung vor zwei Jahren, dem Tag der Dramaturgie des Verbands für Film- und Fernsehdramaturgie. Dort stellte er eine Auswahl an YouTube-Videos und -Kanälen vor, beantwortete seine provokante Frage aber nicht zufriedenstellend. Die nächste FilmStoffEntwicklung steht Anfang November an, allerhöchste Zeit die Gedanken zur letzten auf digitales Papier zu bringen. Der zweite Anlass ist mein Kontakt mit einem indischen YouTuber Anfang des Jahres, der um Rat für seine animierten Wissenschaftsvideos bat, dabei aber jeden meiner Ratschläge ausschlug, besonders den, doch zu versuchen, sein Publikum zu interessieren: »Mein Publikum wird jeder sein, von einem Zwölfjährigen bis zu einer Hundertjährigen. Wer auch immer meine Videos sieht wird die präzise Wissenschaft dahinter schon verstehen.«
Themen sollten auf ihre Relevanz, ihre Aktualität und ihre Brisanz untersucht werden.
Er war von den Naturwissenschaften sichtlich fasziniert, wollte jedoch weder seine eigene Faszination in das Video einfließen lassen – das sei unwissenschaftlich –, noch wollte er sich vorstellen, dass sein Publikum seine Faszination vielleicht (noch) nicht teilt. Selbst bei Fachtagungen wie FilmStoffEntwicklung, das zeigt ja die Erfahrung, ist der Vortragende gut beraten sein ohnehin allgemein am Fach interessiertes Publikum für seinen Vortrag noch einmal im Besonderen zu interessieren. Der indische YouTuber sagte noch einen bezeichnenden Satz: »Ich will keine Protagonisten für mein Video, denn es wird auf Wissenschaft basieren, auf dem Universum und Allem.« Das war eine meiner Empfehlungen an ihn gewesen: Einen Protagonisten in sein Video zu schreiben. Warum?

Das Thema und die betroffene Figur

Ron Kellermann, u.a. Dramaturg und filmschreiben-Redakteur, hat dieses Jahr im Midas Verlag Das Storytelling Handbuch veröffentlicht, in dem er sich mit dem Entwickeln von Geschichten im Journalismus, in der Politik und in Unternehmen beschäftigt. Themen, schreibt er darin, sollten auf ihre Relevanz, ihre Aktualität und ihre Brisanz untersucht werden. Dabei beschreibt die Relevanz, wie sehr das Thema die Zielgruppe betrifft; die Aktualität, wie bewusst sich die Zielgruppe derzeit des Themas ist; und die Brisanz, wie emotional die Zielgruppe auf das Thema reagiert. Alle drei Faktoren lassen sich am einfachsten stellvertretend durch eine Figur darstellen: Eine Figur, die betroffen ist, die sich des Themas bewusst ist, und die auf das Thema emotional reagiert. Anhand dieses Beispiels kann das Publikum dann über seine eigene Betroffenheit und Brisanz entscheiden.

Die am einfachsten zu entwickelnde und darzustellende Figur in einem YouTube-Video? Die YouTuberin oder der YouTuber selbst. Ihr ist das Thema mindestens bewusst, und ihre Arbeit für das Video zeigt uns, wie wir noch sehen werden, das sie das Thema betreffen und/oder emotional berühren muss. Eine solche Figur ist kein spielfilmdramaturgischer Fremdkörper in einem spielfilmfremden Video, sondern YouTube-Tradition. Das Internetvideo mit seinen ästhetischen Ursprüngen in Videotelefonie, Videotagebuch und dem Talking Head, den wir mindestens seit Charlie Chaplins Moderne Zeiten kennen, und den inhaltlichen Ursprüngen in Brief, Tagebuch und Laienjournalismus, Stichwort Weblog, hat vom allerersten YouTube-Video an seinen Autoren oder seine Autorin ins Zentrum von Form und Inhalt gerückt. Inzwischen wird auch die Crew hinter der Kamera als Figuren eingebunden, wie die YouTuberin Lindsay Ellis in ihrem Video-Essay YouTube: Manufacturing Authenticity (For Fun and Profit!) feststellt.
Das emotionale Thema innerhalb der Erzählung diskutieren und verhandeln.
Hätte der indische YouTuber seinem Publikum wie in alter YouTube-Tradition seine Faszination für die Wissenschaft gezeigt, die Relevanz, Aktualität und Brisanz, die seine Themen für ihn haben, dann wäre er seinem Publikum ein Beispiel gewesen, dann hätte er seinem Publikum ein Angebot gemacht, wie sie sich als Betroffene verstehen und emotional reagieren könnten, Ein Vorschlag, an den sie sich hätten anschließen können – oder manchmal eben nicht. Durch seinen Verzicht auf eine Figur ließ er sein Publikum damit allein, und überließ es dem Zufall, ob sie die eigene Betroffenheit erkannten und eine emotionale Reaktion entwickelten.

Das emotionale Thema und seine Diskussion

Um ein Thema mit einer Brisanz zu versehen, kann es im fiktionalen wie im nonfiktionalen Erzählen um das ergänzt werden, das Ron das emotionale Thema nennt. Wenn das Thema des Videos ein Thema aus der Physik ist, dann geht es emotional vielleicht um Verantwortung (etwa bei der Atombombe) oder die Sehnsucht nach einer besseren Welt (etwa bei der Raumfahrt). Wenn das Thema Spionage ist, geht es emotional vielleicht um Verrat (etwa bei verdeckten Ermittlern) oder Intimität (etwa beim Stalking). Wenn das Thema Migration ist, dann geht es vielleicht um Angst vor dem Fremden (etwa bei der AfD), oder aber um Gastlichkeit, Nächstenliebe oder Würde (etwa bei der sogenannten Willkommenskultur).

Die Emotionalisierung von Sachthemen wird angesichts des populistischen Aufstiegs oft beklagt, sie ist aber nicht ein Problem an sich, sondern dann, wenn das emotionale Thema nicht innerhalb der Erzählung diskutiert und verhandelt wird. Denn das ist der nächste Schritt: Die Figur untersucht ihren Umgang mit dem emotionalen Thema. Verschiedenste Optionen werden im Lauf der Handlung auf dem Tisch liegen und von der Figur bewertet: die richtige ist oft eine, die aus Sicht der Figur (und daher aus Sicht des Publikums) nie auf dem Tisch lag, sondern die die Figur durch ihr Abwägen erst erarbeiten und aufwändig auf den Tisch bringen musste. Der Populismus hingegen verharrt oft in der gewählten Emotion und hat ein Interesse daran, dass diese Emotion gerade nicht diskutiert und bearbeitet wird. Das emotionale Thema im Unterschied zur bloßen Emotion bietet Raum für verschiedene Emotionen und ihre Erforschung. Eine Figur etwa, die sich verraten fühlt (emotionales Thema), kann verschiedene Emotionen als Reaktion probieren. Dasselbe gilt für eine Figur, die sich fürchtet.
Motivation wird durch Anstrengung bewiesen.
Wem solche Eisen zu heiß sind: Ein emotionales Thema mit geringer Relevanz, Aktualität und Brisanz, das aber mit jedem inhaltlichen Thema funktioniert und selten problematisch ist, ist Neugierde. Jedes Thema hat eine Wissenschaftlerin, die es erforscht, und die uns ein Beispiel sein kann, wie man sich für dieses Thema interessiert. Bei jedem Thema, das dem Empfänger der Nachricht eher unbekannt ist, lässt sich mit Neugierde Interesse vermitteln. Wir kennen das von Armin aus der Sendung mit der Maus. Und während andere emotionale Themen emotionalen Widerstand produzieren – Verrat etwa ist gleich mit dem Vorwurf an einen Täter verbunden, Angst mit einer empfundenen Bedrohung – wird Neugierde vor allem positiv verstanden. Vorsicht: Problematisch und diskussionswürdig, ja -nötig wird Neugierde dann, wenn es um die Enthüllung von Geheimnissen geht.

Anstrengung als Sprache von Interesse

Wie vermittelt sich nun Relevanz, Aktualität und Brisanz? Sie sind Faktoren der Motivation des Publikums zur Auseinandersetzung mit dem Thema. Genauso sind sie Faktoren der Motivation der Figur und der Motivation der Autorin zur Auseinandersetzung mit dem Thema. Motivation kann durch Worte kommuniziert werden, ja, aber noch viel besser wird sie durch Anstrengung bewiesen. In der Anstrengung findet eine Wertschätzung im Wortsinn statt, die wir unmittelbar als solche verstehen: Das Ziel der Anstrengung wird von dem sich Anstrengenden offenbar für wichtiger und wertvoller empfunden, als die Ressourcen – etwa Kraft, Zeit, Geld, Blut, Schweiß, Tränen –, die für das Erreichen des Ziels aufgewendet wurden.

Hier hat die YouTuberin, die sich selbst als Figur in ihrem Video einsetzt gegenüber einer fiktiven Figur einen großen Vorteil: Ihre Anstrengung ist bereits gegeben, sie muss nicht erst noch erfunden werden. Die Produktion eines YouTube-Videos ist aufwändig. Desto aufwändiger sie ist, desto offenbarer ist dem Publikum, dass die Autorin oder Autor ein großes Interesse nicht nur an der Veröffentlichung des Videos an sich sondern auch an der öffentlichen Bearbeitung des gegebenen Themas haben muss – es wäre ja auch keine Videoproduktion (sondern Erholung oder Tanzen) oder eine Videoproduktion zu einem anderen Thema denkbar gewesen.
Motivation zeigt unseren Blick auf die Welt und den Menschen.
Betrogen wird dieser Schluss, wenn andere Anreize im Spiel sind. Das ist der Reiz am Laien, der dem Professionellen fehlt: Während wir bei Ersterem auf ein ehrliches Interesse schließen, kann das Interesse des Zweiten geheuchelt und durch Geld korrumpiert sein. Auch YouTuberinnen und YouTuber sind durch virtuelle Internetpunkte wie Likes, durch Klickzahlen, Werbung und Sponsoring von solchen Zweifeln an der Integrität ihres Interesses bedroht. Umso wichtiger ist es, dass sie ihr Interesse und ihre Anstrengungen nicht nur implizit durch die Veröffentlichung des Videos sondern auch explizit im Video selbst darstellen, etwa durch den Verweis auf eine aufwändige Recherche.

Die dargestellte Anstrengung funktioniert dabei auch als eine Art Imagefilm für die Autorin. Ihre Anstrengung zeigt dem Publikum ihre Motivation, die wiederum entsteht aus ihrer Erwartung an die Wirkung, die sie mit ihrer Anstrengung erreichen will (ein durstiger Mensch greift nach einer Wasserflasche, weil er erwartet damit seinen Durst stillen zu können; ein ratloser Mensch bittet um Hilfe, weil er sich Rat erhofft). Ihre Erwartung ist Ergebnis der Erfahrungen, die sie gemacht hat (in Wasserflaschen war meistens Wasser; andere Menschen wissen Rat) und zeigt ihren Blick auf die Welt und die Menschen (in Wasserflaschen ist Wasser; Menschen sind hilfreich).

Dieser Blick auf die Welt und den Menschen in Verbindung mit der oben beschriebenen Wertschätzung die bei der Anstrengung stattfindet ist es, an den sich ihr Publikum zusätzlich zu ihrem bearbeiteten Thema anschließen kann. Das Publikum hat selbst solche Blicke auf die Welt und die Menschen, und selbst Werte, für die es sich anstrengt, und andere, für die es das nicht tut, und findet es bei der YouTuberin einen ähnlichen Blick und ähnliche Wertvorstellungen, hat es einen weiteren Grund anzunehmen, dass die Themen, die die YouTuberin interessieren auch es selbst interessieren werden. So kommt es dann zum Abonnement eines Kanals.

(Diesen Imagefilm-Teil und wie sich Publikum an den dargestellten Blick und die dargestellten Werte anschließt werde ich eingehender in einem Artikel über die Dramaturgie von Crowdfunding-Videos beschreiben, der bald erscheint. Darin wird es auch um sogenannte Calls To Action gehen, die die Dramaturgie als Calls To Adventure kennt.)

Zur Struktur und Rhetorik von YouTube-Videos

Aristoteles spricht von logos, von pathos, und von ethos.
Das YouTube-Video lässt sich nun simpel in Einleitung, Hauptteil und Schluss strukturieren, wobei die Einleitung des Videos die Einleitung zur Anstrengung ist, der Hauptteil des Videos die Anstrengung selbst, und der Schluss des Videos das Ergebnis der Anstrengung. Spannung erzeugt dabei die Nähe zur erwarteten Wirkung: Wann hat die Figur das Ziel, für das sie sich anstrengt, fast erreicht? Wann glaubt sie es erreicht zu haben und muss aber feststellen, dass sie sich irrt? Genauso wie eine interessierte Figur das Interesse am Thema konkret erfahrbar macht, macht ein Punkt, an dem das Ziel scheinbar erreicht wurde, dieses Ziel und die damit verbundene Emotion konkret erfahrbar. Die Erinnerung an dieses Gefühl wird Figur und Publikum durch den Tiefpunkt helfen, wenn das Ziel dann doch noch nicht erreicht ist.

(Zur Strukturierung im Detail, dem sogenannten Micro-Plotting, empfehle ich das YouTube-Video F for Fake (1973) – How to Structure a Video Essay von Tony Zhou. Video Essays und ihr großer Erfolg dank YouTube haben ihren eigenen Artikel verdient und werden ihn wohl auch noch bekommen. Auch die Eigentümlichkeit des Verweises, des Internetlinks verdient beim fiktionalen und nonfiktionalen Erzählen auf YouTube eine eigene Betrachtung.)

Leserinnen und Lesern, die sich in der Rhetorik auskennen, werden vielleicht eine Gemeinsamkeit der besprochenen dramaturgischen Aspekte eines YouTube-Videos – Thema, emotionales Thema, und „Imagefilm“ – mit den drei Formen der Überzeugung bei Aristoteles erkannt haben. Aristoteles spricht von logos, wenn mit einem sachlichen Argument überzeugt werden soll; von pathos, wenn mit Emotionalität überzeugen soll; und von ethos, wenn mit dem Charakter des Redenden überzeugt wird. Auch im fiktionalen und nonfiktionalen Erzählen geht es darum: Das Publikum soll vom Interesse für das Thema überzeugt werden. Zum Beispiel vom Interesse für die Wissenschaft, das Universum, und Allem. (Douglas Adams würde sagen: Das Leben, das Universum und der ganze Rest.) Die Dramaturgie hilft dabei.

Bild: YouTube world map. Quelle: Wikipedia. Urheber: Ont/Onur. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

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