Die ersten Schritte der Figurenentwicklung

Figuren sind untrennbar mit der Handlung eines Drehbuchs verbunden, denn: Sie sind es, die die Handlung vorantreiben, Konflikte durchleben, Probleme ausloten und Repräsentanten der Welt sind, die wir in unserem Film oder unserer Serie erzählen wollen. Wie aber werden Haupt- und Nebenfiguren angelegt, welche Tiefe braucht eine Figur und was ist überhaupt eine Backstory?

Characters First?

Fiktionale Erzählungen, egal ob Roman, Film oder Serie, leben davon, dass Figuren bzw. Charaktere in ihnen handeln, Dinge erleben und auf Ereignisse reagieren. Erst durch die Figuren entsteht eine Story, und die Art, wie sie angelegt sind, hat immensen Einfluss auf die Entwicklung der Handlung.

Die Frage, ob zuerst die Story da sein muss oder die Figuren, liest sich wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Da Story und Figuren einander so sehr bedingen, entstehen sie nach und nach, und zwar in enger logischer Verknüpfung. Verändert sich während der Entwicklung eine der Hauptfiguren, wird unweigerlich auch die Handlung eine neue Form oder Richtung annehmen. Wird ein neues Ereignis in die Geschichte integriert, können sich auch die Charaktere maßgeblich verändern, je nachdem wie sie auf das Ereignis reagieren und welche Auswirkungen dieses auf ihr Leben hat.

Wie hätte Star Wars ausgesehen, wenn Luke Skywalker eine Frau gewesen wäre? Wäre House noch House, wenn der Doktor nicht drogensüchtig wäre? Und wie wäre Lost weiter verlaufen, hätten die Überlebenden nicht den Bunker im Untergrund der Insel entdeckt? Wir müssen uns also bewusst machen: Jede Entscheidung, die wir als Autoren treffen, hat eine direkte Auswirkung auf sowohl Story als auch Charaktere.

Lerne deine Figuren kennen

In der Regel ist die erste Figur, mit der wir uns beschäftigen, die Hauptfigur, also diejenige, die im Zentrum des Geschehens steht, quasi der Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist und in Beziehung zu (fast) allen anderen Figuren steht. Manchmal stellen wir aber mitten in der Entwicklung fest, dass eigentlich eine andere Figur viel interessanter ist als die, die wir bislang als Hauptfigur betrachtet haben – ist man schon an dieser Stelle angekommen, lohnt es sich, über einen Wechsel der Perspektive nachzudenken. In den meisten Fällen kommt der Gedanke, die Hauptfigur nun doch zur Nebenfigur oder gar zum Gegenspieler der Hauptfigur zu machen, nämlich nicht ohne Grund.

Um Entscheidungen treffen zu können, die die Charaktere betreffen, ist es notwendig, dass wir sie zunächst einmal kennen lernen. Es ist ein bisschen wie im echten Leben: Name, Alter und Beruf sind vor allem eins – nichtssagend. Sie enthalten keinerlei Informationen darüber, wie der Mensch, dem wir soeben begegnet sind, tickt, ob er optimistisch in die Welt blickt, wie er über die Liebe denkt und welche Ängste ihn nachts wachhalten. Um zu erfahren, warum unsere Figuren so handeln, wie sie handeln, müssen wir sie kennenlernen und herausfinden, woher sie kommen, was sie erlebt haben und was sie antreibt. Kurz gesagt: Charaktere brauchen eine Backstory, die maßgeblich ihre Weltansicht und ihr Verhalten bedingt.

Natürlich kommt die Backstory aus uns selbst. Um die Namen, mit denen wir unsere Figuren bezeichnen, zu echten Charakteren zu machen, haben wir verschiedene Möglichkeiten: Zu den klassischen Methoden, Figuren besser kennenzulernen und ihnen einen Hintergrund zu geben, zählen u.a. das Aufschreiben ihrer Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Handlung, das Verfassen von Tagebucheinträgen oder die fiktive Erzählung von Lebensereignissen aus Sicht der jeweiligen Figur. Je mehr wir aus der Sicht der Figur heraus denken und schreiben, desto eigendynamischer wird diese werden – und vielleicht erleben selbst die Autoren noch die eine oder andere Überraschung, wenn die Figur ein Eigenleben entwickelt.

Was Zeit, Setting und Milieu mit den Figuren zu tun haben

Figuren entwickeln bedeutet immer auch, die Zeit und das Setting in dem die Story spielt, mitzudenken. Ein männlicher Protagonist wird anders denken und handeln, wenn er nicht im heutigen Deutschland lebt, sondern in der preußischen Provinz des 18. Jahrhunderts. Spielt die Story in einer Großstadt der nahen Zukunft, bedingen die Eigenschaften der Zeit und der Umgebung die Handlungen der Figuren ebenfalls auf eine sehr bestimmte Weise. Um das größte Potenzial aus unseren Figuren herauszuholen, hilft es deshalb auch, zwei wichtige Fragen zu stellen: Bildet die Spielzeit der Handlung das größtmögliche Konfliktpotenzial für die Figur ab? Stößt sie eher in einer Großstadt oder in einem verschlafenen Dorf an ihre Grenzen?

Auch das soziale Milieu, dem eine Figur entspringt, bzw. entspricht, hat ganz eigene Auswirkungen auf die Genese eines Charakters. Ist die Figur eher traditionell, modern oder gar zukunftsorientiert? Hat sie sich von den Eltern emanzipieren müssen, um dort anzulangen, wo sie jetzt steht, oder ist ihr alles stets zugefallen, ohne dass sie etwas dafür tun musste? Hat sie einen anerkannten Beruf, kommt sie aus der Mittelschicht oder lebt sie vom Sozialamt? Welche sozialen Gefüge repräsentieren die anderen Figuren und verbirgt sich in der Kombination wiederum Konfliktpotenzial? All diese Fragen dienen dazu, sich den Figuren anzunähern und ihnen das größtmögliche Potenzial für Entwicklung, aber auch Konflikt zu geben.

Klischees und Stereotypen

Damit der Zuschauer einer Figur durch ihre Geschichte folgt, mit ihr leidet und sich mit ihr freut, muss die Figur – vor allem die Hauptfigur, die in der Regel das größte Identifikationsmoment bereithält – glaubhaft sein. Glaubhaft wird eine Figur aber nur dann, wenn sie vielschichtig ist, wenn wir im Laufe der Handlung neue, unerwartete Seiten an ihr entdecken und wenn sie es schafft, uns auf ihre Reise mitzunehmen.

Figuren, die nur eine einzige Eigenschaft besitzen und sich im Laufe der Handlung nicht verändern bzw. keine Entwicklung durchlaufen, sind für den Zuschauer nicht interessant. Sie bilden häufig ein einziges Klischee ab: das blonde Model, der tätowierte Bandenchef, der knallharte Ermittler. Wann aber werden diese Figuren glaubhaft bzw. so interessant, dass wir ihnen gerne zusehen? Wenn sie unter der Oberfläche weitere Charakterzüge offenbaren, die der Figur Authentizität verleihen und für Brüche innerhalb der Figur sorgen, z.B. indem wir ihnen unerwartete Eigenschaften geben. Beispiel gefällig? Das blonde Model, das nebenbei Jura studiert und sich zur Anwältin ausbilden lässt; der tätowierte Bandenchef, der aus ethischer Überzeugung vegan lebt; der knallharte Ermittler, der in seiner Freizeit im Blumenladen Friedhofsgestecke herstellt. Je differenzierter die Figur, desto interessanter.

 

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