Die Entscheidung zu handeln: Aktive vs. passive Figuren

Figuren sind der Dreh- und Angelpunkt des Films. Sie haben die Handlung sprichwörtlich in der Hand, denn mit ihren Entscheidungen gestalten sie, was passiert. Eine Figur, und dann noch eine Hauptfigur, die weder handelt noch Entscheidungen trifft, ist vor allem eins: langweilig. Damit eine Figur in der Lage ist, einen Film zu tragen, muss sie natürlich schon in der Konzeption des Drehbuchs entsprechend angelegt sein. Indem wir unseren Figuren einerseits etwas zu tun geben und ihnen andererseits Entscheidungen abverlangen, gestalten wir die Handlung entlang unserer Figuren.

Wir unterscheiden bei der Figurenkonzeption zwischen solchen Charakteren, die aktiv handeln und entscheiden, und solchen, die durch äußere Ereignisse bestimmt werden und Entscheidungen vermeiden. Unsere Figuren sind dafür verantwortlich, dass die Handlung vorangeht, kurzum: Sie sorgen dafür, dass etwas passiert.

Für die Entwicklung der Figuren unseres Drehbuchs steht in der Regel zuerst einmal die Hauptfigur im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Das größte Potenzial spielt eine Figur, auch die Hauptfigur, dann aus, wenn sie sich im Laufe der Geschichte von einer passiven, nicht handelnden Figur zu einer aktiven wandelt. Ein Blick in die großen Titel der Filmgeschichte zeigt, dass Hauptfiguren, die von Anfang an aktiv sind, nur selten vorkommen, und zwar genau aus diesem Grund: Wären sie schon zu Beginn so weit, eigene Entscheidungen zu treffen und aktiv zu handeln, würden wir einen Großteil ihres Potenzials verspielen. Figuren, die von Beginn an aktiv handeln (und in diesem Zuge gerne auch mal eine Entscheidung für die Hauptfigur fällen), sind sogenannte Mentorenfiguren wie Gandalf im Herrn der Ringe, Dr. King Schultz in Django Unchained oder Jacob Palmer in Crazy, Stupid, Love.

Der Ausgang aus der (selbstverschuldeten?) Unmündigkeit

Die Aufgabe der Hauptfigur besteht darin, sich von der Mentorenfigur, die sie für eine Weile an die Hand nimmt, zu emanzipieren und eigene Entscheidungen zu treffen. Was aber ist nun der Unterschied zwischen einer aktiven und einer passiven Figur?

Eine aktive Figur wird sich ihre Ziele selbst setzen, und sie wird alles tun, um das Ziel zu erreichen. Einer passiven Figur werden ihre Ziele vorgesetzt, und sie kann sie entweder annehmen, d.h. sie bleibt passiv, oder sie kann diesen Zielen etwas entgegensetzten, d.h. sie macht einen Wandel von der passiven zur aktiven Figur. Im besten Fall verändert sie damit nicht nur ihr eigenes Leben, sondern macht auch gleich die Welt noch ein Stück besser.

Unser Ziel besteht also darin, Figuren zu schaffen, die Entwicklungspotenzial haben. Diese Entwicklung können sie z.B. in einer Version der klassischen Heldenreise durchmachen, in deren Verlauf sie zu einer neuen, (häufig) besseren Version ihrer selbst werden.

Was macht eine Hauptfigur zur Hauptfigur?

Es bleibt festzuhalten: Wichtig für die Figurenentwicklung ist, den Figuren etwas zu tun zu geben, und Entscheidungen von ihnen zu verlangen. Ich möchte das an einem kleinen Beispiel illustrieren. Die Hauptfigur, die sich von einer passiven Figur zu einer aktiven wandelt, braucht einen Auslöser, um aktiv zu werden. In der Regel kommt dieser Impuls von außen:

Beispiel 1: Als Oskar Schindler Juden in seiner Emaille-Fabrik beschäftigt, tut er das in Schindlers Liste zunächst aus Eigennutz, denn es sind günstige Arbeitskräfte. Als „seine“ Juden aber nach Auschwitz gebracht werden sollen, entscheidet sich Schindler in einer Wandlung zu mehr Menschlichkeit aus Idealismus und Ablehnung des Nationalsozialismus aktiv dazu, diesen Menschen zu helfen und deklariert seine Arbeiter als kriegswichtig.

Beispiel 2: Als er einen Unfall überlebt und allein auf dem Mars zurückbleibt, entscheidet sich Der Marsianer Mark Watney aktiv dafür, am Leben zu bleiben, koste was es wolle, obwohl er nicht weiß, ob man ihn von der Erde aus überhaupt sehen kann und ob man ihn retten können wird.

Der Impuls zu handeln wird von außen erzwungen, und doch kommt die Entscheidung zu handeln aus den Figuren selbst. Schindler könnte sich von der Realität überrollen lassen und den Plänen der Nazis nachgeben. Watney könnte aufgeben, weil die Wahrscheinlichkeit zu überleben nicht mehr als rund 2% beträgt. Wäre das schon die Entscheidung, bzw. das Vermeiden der Entscheidung zu handeln, wären beide Filme vermutlich nie gemacht worden, und wären schon gar nicht sehr erfolgreich. Denn diese Eigenschaft ist es, was wir in einer Hauptfigur sehen wollen!

Dass sie aktiv wird und sich entscheidet zu handeln, unterscheidet sie nicht zuletzt vom Menschen der Realität: Filmfiguren dürfen immer eine Spur idealistischer, wagemutiger, risikobewusster sein als der Mensch an sich. Müssen sie auch, denn nur aus einer starken Handlung mit einer Hauptfigur, die uns mit auf ihre Reise nimmt, kann ein Film entstehen, der uns in seinen Bann zieht.

Die Umsetzung in der Figurenentwicklung

Damit unsere Figuren wirklich aktiv werden, müssen wir sie im Verlauf der Entwicklung immer wieder und wieder überprüfen. Helfen kann dabei ein Fragenkatalog, der den Motiven und Idealen der Figuren auf den Grund geht, aber an dieser Stelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

  • Wie kann die Figur ihr Ziel aus eigener Kraft erreichen?
  • Welche Hindernisse stellen ihr die Gegenspieler oder das Leben in den Weg?
  • Wie kann der Figur das Erreichen ihres Ziels so schwer wie möglich gemacht werden?
  • Womit lässt sich eine Entscheidung der Figur erzwingen?
  • Wie geht die Figur mit Krisen um?
  • Warum trifft die Figur genau diese Entscheidung?
  • Welche Alternativen hat die Figur?
  • Braucht die Figur einen Mentor?
  • Wie kann der Mentor den Denkprozess der Figur hin zu aktiven Entscheidungen verändern?
  • Was bringt die Figur dazu, sich vom Mentor zu emanzipieren?
  • Inwieweit hat sich die Figur vom Anfang des Drehbuchs zum Ende hin weiterentwickelt?

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