Wieso findet eine reaktionäre, ausländerfeindliche und tendenziell antidemokratische Partei wie die AfD so viel Zustimmung? Weil ihr Storytelling die Ängste und Sehnsüchte vieler Menschen widerspiegelt und deren Frust, Wut und Hass artikuliert.
(Dieser Artikel ist der zweite Teil der vierteiligen Artikelreihe über das Storytelling der AfD. Für eine detaillierte Beschreibung der Inhalte der anderen Teile siehe die Einleitung des ersten Teils. In der Reihe „Weltverstehen und Radikalisierung“ sind bisher erschienen: „Das Storytelling des Islamischen Staates“, „Das Storytelling des Brexit“ und „Wie Journalisten das Storytelling des Islamischen Staates und der AfD betreiben“)
Die AfD gewinnt immer mehr Anhänger – im Juni 2016 liegt sie laut Forschungsgruppe Wahlen bei immerhin 13%. Eine Partei wird gewählt, wenn die Menschen sich von ihrer Politik ein besseres Leben versprechen. Eine wirksame Methode, um Hoffnung auf ein besseres Leben zu erzeugen, ist das Erzählen von Geschichten. Deshalb analysiere ich in dieser vierteiligen Artikelreihe das Storytelling der AfD: Welche Storys erzählt die AfD? Warum sind diese Storys erfolgreich? Was macht ihr Identifikationspotenzial und ihre Anziehungskraft aus? Gibt es bestimmte Merkmale, die die AfD-Anhänger kennzeichnen, so etwas wie eine gemeinsame „Mentalität“? Welche politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Konflikte thematisieren die Storys der AfD? Welche Lösungen schlägt sie für diese Konflikte vor? Also welches bessere Leben versprechen sie?
Eine Partei ist mehr als die Summe ihrer Storys. Um die AfD und ihren Erfolg zu verstehen, ist deshalb auch ein Blick auf die Partei selbst, die anderen Parteien – also ihre antagonistischen Kräfte – und die Medien zu werfen: Wie ist die AfD entstanden? Welche politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umstände haben zu ihrer Gründung geführt? (Diese Fragen werden in Teil 1 des Artikels beantwortet.) Gibt es eine „Backstory Wound“, eine Verletzung in der Vergangenheit, der sich die AfD verdankt und ohne deren Heilung keine positive Lösung des Konfliktes zugunsten der liberalen Kräfte möglich ist? Wie hat sich die AfD seit ihrer Gründung entwickelt? Wie sieht ihre Radikalisierung aus? Wie wird sie sich voraussichtlich weiterentwickeln? Wie reagieren die anderen Parteien und die Medien auf sie? Wie sehen ihre Strategien in der Auseinandersetzung mit der AfD aus? Warum sind diese Strategien erfolglos und wie könnten erfolgreiche Strategien aussehen?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, analysiere ich die AfD und den Umgang der anderen Parteien und Medien mit ihr aus der Perspektive der fiktionalen Dramaturgie. Die fiktionale Dramaturgie ist mehr als lediglich ein System aus Prinzipien, Erfahrungswerten, Denk- und Handlungsweisen, derer sich fiktional arbeitende Autorinnen und Autoren bedienen können, um ihre Drehbücher, Romane, Theaterstücke und Hörspiele zu entwickeln. Sie ist eine Methode, mit der man die Realität wahrnehmen, Ursachen analysieren, Zusammenhänge erkennen, Dynamiken verstehen und letztlich die Welt und das Leben darstellen und gestalten kann. Als solche nenne ich sie Storytelling – die Anwendung der Werkzeuge der fiktionalen Dramaturgie in non-fiktionalen Kontexten.
Drei Generationen der AfD: liberal, national, völkisch
Im ersten Teil der Artikelreihe habe ich anhand der Entwicklung der Core Story der AfD gezeigt, wie sich die Partei zunehmend radikalisiert – von der ursprünglichen Lucke-Version der Core Story, deren Ziel vor allem die ökonomische, aber auch politische und gesellschaftliche Rettung des (National)Staates war, über die Petry-Version, in der es um die Rettung der (Kultur)Nation geht, zur Höcke/Gauland/Poggenburg-Version, in deren Zentrum die Rettung des deutschen Volks(körpers) vor dem „Volkstod“ steht.
In dieser Entwicklung zeigt sich die Radikalisierungsdynamik der AfD als zunehmende Verengung der Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft: Wer gehört zu uns und wer gehört nicht zu uns? Die Lucke-Version hat diese Frage politisch beantwortet: Die Bürgerinnen und Bürger des Staates bilden die Gemeinschaft. Die Petry-Version beantwortet sie kulturell: Menschen einer bestimmten kulturellen Herkunft mit gemeinsamen Merkmalen wie Sprache, Tradition, Sitten und Bräuchen gehören zur Gemeinschaft. Die Höcke/Gauland/Poggenburg-Version verengt die Antwort weiter auf ethnische bzw. metaphysische Merkmale: Nur die Menschen, die von einem bestimmten Volk abstammen, sind Mitglieder der Gemeinschaft.
Man kann also von drei Generationen der AfD sprechen. Zur ersten Generation gehörten Bernd Lucke und die liberalen Kräfte, die mittlerweile größtenteils aus der Partei ausgeschieden sind, weshalb ich sie in diesem Text nur am Rande behandeln werde. Zur zweiten Generation gehören die Reaktionären und Nationalisten um Frauke Petry (die ursprünglich mehr zur ersten Generation zählte, sich in ihrer opportunistischen Wandlungsfähigkeit aber seit der Ankunft der Flüchtlinge letzten Sommer zunehmend radikalisiert), Marcus Pretzell, Beatrix von Storch und Alexander Gauland. Zur dritten Generation gehören die Völkischen Björn Höcke und André Poggenburg.
Mit dem ersten Radikalisierungsschub hat die zweite Generation die erste abgelöst. Innerhalb der zweiten Generation gab es seitdem mehrere Radikalisierungsschübe, die sie immer näher an die Positionen der dritten Generation gebracht haben. Dadurch wurden das Gewicht und der Einfluss der dritten Generation größer, man könnte auch sagen, die zweite Generation hat sie salonfähig gemacht und damit ihr eigenes Grab geschaufelt. Denn aktuell gibt es Hinweise darauf, dass die dritte Generation die zweite ablösen wird bzw. die zweite sich so weit radikalisieren wird, dass sie in der dritten aufgeht.
Alexander Gauland hat den Schritt in die dritte Generation schon geschafft, auch Beatrix von Storch und Marcus Pretzell nähern sich ihr an: Sie sind aus der Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformisten“ (EKR) im Europäischen Parlament ausgetreten (wenn auch nicht ganz freiwillig, dazu weiter unten mehr) und in nationalistisch und antieuropäisch geprägte Fraktionen eingetreten: von Storch in die „Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD), die von der britischen UK Independence Party (UKIP) und dem italienischen MoVimento 5 Stelle (M5S) dominiert wird, Pretzell in die Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“, der die FPÖ, der Front National, Geert Wilders „Partei der Freiheit“ und die Lega Nord angehören – eine sehr illustre Gesellschaft von Rechtspopulisten und -extremisten.
Jörg Meuthen, der vielen noch als Vertreter des liberalen Flügels gilt, dürfte diesen Schritt trotz seiner Radikalisierung nicht schaffen. Er dürfte jedoch als liberales Feigenblatt in der Partei verbleiben. Frauke Petry ist zwar opportunistisch genug, um ihn zu schaffen, sie ist jedoch genau wie Bernd Lucke die Gallionsfigur für eine bestimmte Färbung der Partei und wird deshalb ebenfalls die Führung abgeben und in der Bedeutungslosigkeit verschwinden müssen, damit die dritte Generation die Partei führen und dominieren kann.
Eine solche Wandlung, wie die AfD sie gemacht hat und wahrscheinlich weitermachen wird, wird in der fiktionalen Dramaturgie als Charakterentwicklung der Hauptfigur bezeichnet. Um sie geht es in diesem Teil des Artikels, in dem ich den Prozess der Radikalisierungsdynamik genauer darstelle. Dabei betrachte ich das Phänomen AfD aus drei Blickrichtungen:
Aus der Perspektive des thema- und werteorientierten Storytellings geht es um das inhaltliche Thema „Radikalisierung“, das emotionale Thema „Gemeinschaft“ und die zentrale Frage: Kann eine radikale Partei dauerhaft eine wachsende und stabile Gemeinschaft aus Mitgliedern, Wählerinnen und Wählern konstituieren oder muss sie sich permanent weiter radikalisieren, um ihre Gemeinschaft zu erhalten und zu vergrößern?
Aus der Perspektive des protagonistenzentrierten Storytelling geht es um die Frage, wer die wesentlichen Akteure der AfD sind. Denn sie sind es, die die Themen und Werte transportieren und sich radikalisieren.
Mit den Werkzeugen des handlungs- und konfliktbasierten Storytellings analysiere ich auf der strukturellen Ebene der Konfliktentwicklung die „Charakterentwicklung“ der Partei: Wie und wodurch hat sich die Partei seit ihrer Gründung verändert, wo steht sie heute, wie könnte es mit ihr weitergehen und wie könnte eine Auflösung des zentralen Konfliktes zwischen ihr und den liberalen Kräften aussehen? (Zum thema- und werteorientierten, protagonistenzentrierten und handlungs- und konfliktbasierten Storytelling siehe meinen Artikel „Storytelling in der Praxis“).
Radikalisierungsdynamik: die „Charakterentwicklung“ der AfD
In der fiktionalen Dramaturgie wird das grundlegende Entwicklungsmuster eines Konflikts in der Drei-Akt-Struktur abgebildet. Diese drei Akte stehen für die drei Phasen eines Konflikts: Entstehung, Austragung, Auflösung. Der Übergang von einem Akt in den nächsten wird jeweils von einem sogenannten Wendepunkt markiert: Der erste Wendepunkt leitet von der Konfliktentstehung in die Konfliktaustragung und -steigerung über, der zweite in die Konfliktauflösung.
Wie ich im ersten Teil des Artikels dargestellt habe, sind die Euro-Krise und die Krisenpolitik der Bundesregierung das auslösende Ereignis, das zur Gründung der AfD geführt hat. (Im vierten Teil des Artikels werde ich zeigen, dass man in der kausalchronologischen Kette noch weiter zurückgehen muss, um die sogenannte „Backstory Wound“ zu finden. Ohne ihre Heilung ist eine positive Lösung des Konflikts nicht möglich. Man muss sie also kennen – und heilen -, wenn man langfristig verhindern will, dass Parteien wie die AfD und alle ihr möglicherweise noch folgenden nationalistisch(er)en und antiliberal(er)en Kräften stärker werden.)
Die erste Generation: liberal…
Gerd Robanus, einer der Mitgründer der „Wahlalternative 2013“, kann sogar das Datum für sein persönliches auslösendes Ereignis nennen: der 25. März 2010. An diesem Tag versicherte Angela Merkel vor dem Bundestag, dass es keine direkten Finanzhilfen für Griechenland geben wird. Doch noch am gleichen Abend einigte sie sich mit den Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten auf das erste Hilfspaket für Griechenland, mit dem die No-Bailout-Klausel des Maastricht-Vertrags ausgehebelt wurde. Mit diesem Vertragsbruch ist auch Robanus´ Vertrauen in Merkels Europapolitik zerbrochen. Als Folge davon hat er die Wahlalternative 2013 mitgegründet.
Nachdem die geplante Partnerschaft mit den Freien Wählern nach der Landtagswahl in Niedersachsen aufgrund von Konflikten um den organisatorischen und inhaltlichen Führungsanspruch beendet wurde, wurde die AfD gegründet. Das ist der erste Wendpunkt auf struktureller Ebene. Im zweiten Akt wird der Konflikt ausgetragen. Wie sieht dieser zweite Akt nun aus, wie hat sich die AfD in den letzten drei Jahren entwickelt, wo im zweiten Akt befindet sie sich heute, wie könnte ein zweiter Wendepunkt aussehen, der in den dritten Akt – in die Auflösung des Konfliktes führt – und wie könnte diese Auflösung im Höhepunkt des dritten Aktes aussehen?
Die bisherige Entwicklung der AfD lässt sich mit der dramaturgischen Unterscheidung zwischen Handlungsebene und Beziehungsebene einer Story und mit dem dramaturgischen Modell der emotionalen Reise der Hauptfigur als Konfliktentwicklungsmuster des zweiten Aktes besser beschreiben und verstehen. Die emotionale Reise unterteilt die Konfliktaustragung im zweiten Akt in zwei Phasen, in die Hoffnung und in die Katastrophe. Hoffnung heißt, es läuft gut für die Hauptfigur, sie nähert sich ihrem Ziel an. Katastrophe meint, es läuft schlecht für die Hauptfigur, sie entfernt sich von ihrem Ziel. Da es in allen, zumindest in den existenziellen Konflikten des Lebens und des Menschseins, diese beiden Phasen gibt, hat dieses Modell auch für reale Konflikte eine nahezu universelle Gültigkeit.
Auf der Handlungsebene befindet sich die AfD von Anfang an – wenn auch mit kleinen Umfragedämpfern – in der Hoffnung: Sie ist erfolgreich, sowohl aufgrund ihrer Wahlerfolge politisch als auch hinsichtlich ihrer medialen (Über)Präsenz, wobei letztere zu ersterem wesentlich beigetragen haben dürfte. Auf der Beziehungsebene hingegen war und ist die Partei bis auf kurze Friedensphasen in der Katastrophe: Im Hinblick auf die Werte Einigkeit und Geschlossenheit läuft es schlecht für sie. Sie entfernt sich von ihrem Ziel, eine stabile geeinte Partei zu sein.
… national und reaktionär
Zu Beginn behielt die AfD den wirtschaftspolitischen Schwerpunkt der Wahlalternative 2013 bei. Allerdings hatte sie von Anfang an schon nationalistische und reaktionäre Vertreter in ihren Reihen, wie beispielsweise Alexander Gauland und Beatrix von Storch.
Alexander Gauland und Beatrix von Storch
So warf Alexander Gauland noch zu Zeiten der Wahlalternative 2013 den etablierten Parteien vor, sich davor zu fürchten, „antieuropäisch oder gar deutsch-national zu erscheinen“ und unfähig zu sein, nationale Interessen zu formulieren. Er wähnte sich damals schon als Vertreter „mindestens eine[r] sehr große Minderheit, wenn nicht [der] Mehrheit“ der Bevölkerung, die die Euro-Krisen-Politik der Regierung für falsch hält. Dass auch er sich noch weiter radikalisiert hat, zeigen viele seiner Äußerungen in den letzten Monaten und seine Annäherung an Björn Höcke (zu ihm weiter unten mehr).
Gauland war einst ein angesehener konservativer Intellektueller. Von diesem hat er sich zu einem Vertreter des völkischen AfD-Flügels gewandelt. Das zeigt er beispielsweise in einer Rede, in der er von „menschlicher Überflutung“ als Versuch der Politik spricht, „das deutsche Volk allmählich zu ersetzen durch eine aus allen Teilen dieser Erde herbeigekommene Bevölkerung“. Oder in seiner Verwendung des NPD-Slogans „Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land.“ – laut bayrischem Verfassungsschutz ein typisches Redemuster der rechtsextremistischen Szene und laut FAS ein Teil des Refrains des Titels einer Neonazi-Band (deren Name ich hier nicht nennen will, um sie nicht publik zu machen).
Gauland hat allerdings früher schon für negative Schlagzeilen gesorgt: Während seiner Zeit als Leiter der Hessischen Staatskanzlei von 1987 bis 1991 unter dem zum rechten Flügel der CDU zählenden Walter Wallmann löste er eine politische Affäre aus, die als „Affäre Gauland“ bezeichnet wird. In ihr ersetzte er einen leitenden Ministerialrat zugunsten eines ihm politisch nahestehenden Beamten und beging dafür einen Meineid (wie laut Wikipedia der Briefverkehr der 5. Kammer des Hessischen Verwaltungsgerichts von 2000 belegt). Martin Walser hat diesen Skandal später in seinem Buch „Finks Krieg“ literarisch aufgearbeitet.
Wichtigste Vertreterin des reaktionären Flügels ist Beatrix von Storch, die bereits den Aufruf der Wahlalternative 2013 unterschrieb. Von Storch ist seit Mitte der 1990er Jahre politisch aktiv. Mit ihrem Mann hat sie mehrere Vereine und Initiativen gegründet – deren Namen ich hier nicht nennen will, um ihnen keine Öffentlichkeit zu geben – und in einem konservativen Netzwerk zusammengeführt. Außerdem ist sie Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, aus der 2015 zahlreiche Mitglieder – wie Hans-Olaf Henkel, IW-Chef Michael Hüther und Christian Lindner – aufgrund eines Rechtsrutschs der Gesellschaft austraten.
Im Zentrum dieses Flügels steht eine reaktionäre Familienpolitik, die sich gegen Abtreibung richtet, eine Steigerung der Geburtenrate fordert und der Ehe zwischen Mann und Frau vor anderen Lebensgemeinschaften den Vorrang gibt. Mit der Ablehnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, von Sexualkundeunterricht und einer ausgeprägten Homo- und Islamophobie sollen die christlichen Werte vereidigt werden, die für von Storch als bibeltreuer Christin grundlegend und leitgebend sind. Auch Antifeminismus spielt eine große Rolle.
Erste Erfolge und erste Radikalisierung
Der AfD ist es nach ihrer Gründung gelungen, in relativ kurzer Zeit im gesamten Bundesgebiet auf Ebene der Länder eigene Verbände zu gründen, womit sie über eine flächendeckende, gut organisierte Struktur verfügt. Den Sprung über die 5%-Hürde schaffte sie bei der Bundestagswahl 2013 zwar mit 4,7% knapp nicht, ihr Ergebnis war für eine solch junge Partei jedoch ein Achtungserfolg (Handlungsebene).
Dennoch entbrannte ein innerparteilicher Streit zwischen den liberal- und nationalkonservativen Flügeln (Beziehungsebene), insbesondere über die Position der Partei zu den Themen Zuwanderung und Islam, über die Haltung zu Pediga und über den Führungsanspruch von Bernd Lucke. In dieser Auseinandersetzung ist es dem rechten Parteiflügel gelungen, seinen Einfluss auszuweiten. Ein Grund dafür ist, dass die ostdeutschen Landesverbände diesem Flügel angehören und sich im Wahlkampf für die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg 2014 befanden. Als Folge davon traten in der vor allem durch die Wahlkämpfe beeinflussten öffentlichen Selbstdarstellung der Partei und der Berichterstattung über sie stärker die ideologisch konservativen und reaktionären Themen hervor als die wirtschaftspolitischen. Davon profitierten Frauke Petry (Sachsen), Alexander Gauland (Brandenburg) und Björn Höcke (Thüringen). Sie wurden dadurch prominenter und sichtbarer und damit eine Konkurrenz für Bernd Lucke.
Das Ergebnis dieser Positionsverschiebung, die einen ersten Radikalisierungsschritt darstellt, waren erfolgreiche Wahlen 2014 und 2015. Bei den Europawahlen Ende Mai 2014 erreichte sie 7,1 Prozent. Im August 2014 zog sie mit 9,7% in den Landtag von Sachsen ein, im September mit 12,2% in den Landtag von Brandenburg und mit 10,6% in den Landtag von Thüringen, im Februar 2015 folgten mit 6,1% die Bürgerschaftswahlen in Hamburg und mit 5,5% die Bürgerschaftswahlen in Bremen.
Die zweite Radikalisierung
Der nächste Radikalisierungsschub erfolgte im März 2015 durch die „Erfurter Resolution“, die von den zentralen Vertretern der dritten Generation Björn Höcke und André Poggenburg gegen den Kurs des Parteivorstands initiiert wurde. In ihrer forderten sie eine klarere Ausrichtung der Partei als „Bewegung unseres Volkes gegen Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender-Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit usf.)“ und als „Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“.
Außerdem kritisierten sie, dass die Parteiführung sich von Pegida-Demonstrationen fernhielt und sogar „in vorauseilendem Gehorsam“ von Pegida distanzierte. Angeblich hatten bis zum 25. März über 1600 Parteimitglieder die Erfurter Resolution unterzeichnet, unter ihnen auch das Vorstandsmitglied Alexander Gauland.
Björn Höcke und André Poggenburg
Um die Bedeutung dieses Radikalisierungsschubs zu verstehen, ist es hilfreich, die Positionenvon Björn Höcke und André Poggenburg sind. Höcke ist der thüringische Fraktionsvorsitzende und einer der rechtesten Vertreter der Partei. In der Politik aktiv ist er seit seiner Mitgliedschaft in der AfD 2013 – zumindest offiziell. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass er vorher schon aktiv war, nur nicht unter seinem Namen. Denn nachdem er 2006 nach einem von ihm verfassten Leserbrief in der „Jungen Freiheit“ – dem Sprachrohr der Neuen Rechten – angemahnt wurde, sich als Geschichtslehrer mit extremen Positionen zurückzuhalten, musste er Probleme als verbeamteter Lehrer befürchten.
Wie extremistisch er möglicherweise ist, zeigt der Journalist Andreas Kemper, der zahlreiche Anhaltspunkte recherchiert hat, die nahelegen, dass Höcke unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ vor 2013 politische Texte publizierte. Unter anderem fand er in seiner Analyse von Ideologiefragmenten in Höckes Reden, Texten und Interviews heraus, dass Höcke dieselben Wortneuschöpfungen verwendet wie „Landolf Ladig“ 2011 und 2012 in Texten für ein NPD-Magazin. „Ladig“ vertritt darin nicht nur NPD-Positionen, sondern verherrlicht den Nationalsozialismus, womit er sich sogar rechts von der NPD positioniert.
Nach der Aufdeckung der wahrscheinlichen Höcke-Ladig-Identität forderte der damalige Lucke-Vorstand Höcke auf, Kemper wegen Verleumdung anzuzeigen und eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, dass er nicht für eine NPD-Publikation geschrieben hat. Höcke ist beidem nicht nachgekommen.
Auch der Stil und die Begriffe von Ladig tauchen seit 2013 nicht mehr auf – außer bei Höcke. Ob Höcke nun tatsächlich Ladig ist oder nicht – fest steht, dass er die gleichen Wortneuschöpfungen wie ein Neonazi verwendet.
Hans-Thomas Tillschneider – der Rechtsintellektuelle der AfD und Initiator der Patriotischen Plattform – entgegnet Andreas Kemper mit der in der AfD häufig verwendeten Opferargumentation und mit einem „Je suis Landolf Ladig!“ – womit er mehr aussagt, als ihm recht(s) sein dürfte.
Meine kurze persönliche Einschätzung zu Tillschneider nachdem ich mehrere seiner Texte gelesen und ihn auf dem Stuttgarter Parteitag gesehen habe: Er ist hochintelligent und sehr gebildet. Und bis oben hin voller Hass und Aggressionen – eine gefährliche Mischung.
Wie Frauke Petry und Alexander Gauland zu Höcke stehen, zeigt ein Ereignis aus dem Mai 2015: Der Bundesvorstand der AfD beschloss aufgrund von Aussagen Höckes zur NPD mit fünf zu zwei Stimmen, gegen Höcke ein Parteiverfahren mit dem Ziel der Amtsenthebung und des Ausschlusses von Parteiämtern für zwei Jahre durchführen zu lassen. Höcke reagierte mit einer Opfer-Argumentation darauf, indem er dem Vorstand vorwarf, dass es ihm ausschließlich darum gehe, ihn zu diffamieren und seine Glaubwürdigkeit zu untergraben. Die zwei Vorstandsmitglieder, die gegen den Antrag stimmten, sind Petry und Gauland. Nach der Neuwahl des Bundesvorstandes wurde das Verfahren von ihnen im September 2015 eingestelltPetry und Gauland distanzierten sich also trotz des massiven Neo-Nazi-Verdachts nicht von Höcke. Erst nach seinen Aussagen zur Verteidigung des tausendjährigen Reiches in der Talk-Show von Günther Jauch, in der er ein Deutschland-Fähnchen über seinen Sessel hängte (dazu im dritten Teil dieses Artikels mehr), distanzierte sich Petry von ihm. Gauland kritisierte Petry dafür und steht nach wie vor stramm an dessen Seite.
André Poggenburg, des zweiten Initiators der „Erfurter Resolution“, steht nach eigenen Aussagen ebenfalls zu 100 Prozent hinter Höcke. Er ist Landesvorsitzender der AfD in Sachsen-Anhalt und Mitglied des Bundesvorstandes. Seine Position als Landesvorsitzender stand im Januar 2016 in Frage nachdem gegen ihn mehrere Haftbefehle erlassen wurden, da er ausstehende Verbindlichkeiten seines Unternehmens nicht beglichen und mehrfach eine Vermögensauskunft verweigert hatte. Zuerst bediente auch er sich einer Opfer-Argumentation, indem er eine Medienkampagne gegen ihn behauptete und er seinen politischen Gegnern Wahlkampftaktik unterstellte. Später gab er in einer Pressekonferenz zu, dass er ausstehende Forderungen nicht beglichen hatte und es Erzwingungshaftandrohungen gab. Ich erwähne dieses Ereignis nicht, um Poggenburg als erfolglosen Unternehmer bloßzustellen. Daraus lassen sich nur bedingt Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit ableiten. Wie er damit umgegangen ist, sagt jedoch viel über ihn aus.
Neben einigen ostdeutschen AfD-Kollegen sind auch AfD-Mitglieder aus Baden-Württemberg wegen Poggenburg aus der Partei ausgetreten. Ihre Begründung lautete, dass sie nicht Mitglied einer Partei sein wollen, in der ein Mitglied des Parteivorstands auf Veranstaltungen gemeinsam mit Neonazis auftritt. Einer von ihnen sagte sogar, dass Poggenburg einen „revolutionären Kampfverein“ aus der AfD machen wolle. Neben diesen Vorwürfen aus den eigenen Reihen positioniert auch eine Studie der Universität Göttingen den Landesverband Sachsen-Anhalt unter dem Vorsitz Poggenburgs als „völkisch-nationalistisch“.
Unter Poggenburgs Vorsitz wollte sein Landesverband 2015 außerdem zwei der führenden Vertreter der Neuen Rechten in die AfD aufnehmen. Der damalige Bundesvorstand lehnte in einer zweiten Instanz die Aufnahme jedoch ab. Die Recherchegruppe „Kentrail-Veschwörung“ kommt zu dem Schluss, dass Höcke verglichen mit Poggenburg ein „kleines Licht“ ist.
Festzuhalten bleibt an dieser Stelle zunächst, dass wichtige führende Köpfe der AfD in Ostdeutschland mit ihrer Anfälligkeit für völkische und nationalistische Positionen extremer sind als ihre Kollegen in Westdeutschland. Festzuhalten ist auch, dass die AfD im Osten deutlich bessere Wahlergebnisse erzielt als im Westen. Warum das so sein könnte, versuche ich im dritten Teil des Artikels zu ergründen.
Die erste Spaltung der Partei
Die „Erfurter Resolution“ führte nicht nur zu einer weiteren Radikalisierung auf der politischen Handlungsebene, sondern verschärfte auch den Konflikt innerhalb der Partei auf der Beziehungsebene: Kurze Zeit später veröffentlichten Hans-Olaf Henkel und drei Europaabgeordnete eine „Deutschland-Resolution„, die sie als Gegenerklärung bezeichneten und in der sie den Initiatoren vorwarfen, die Partei spaten zu wollen.
Bis April treten neben Hans-Olaf Henkel zwei weitere dem liberalen Flügel angehörende Mitglieder aus dem Bundevorstand aus. Alle begründen ihre Entscheidung mit der Entwicklung der Partei nach rechts, Henkel auch mit charakterlichen Defiziten führender Parteifunktionäre und mit dem persönlichen Umgang innerhalb des Vorstands: Die Rechten wollen die Liberalen weg haben.
Zur gleichen Zeit kämpften die liberalen Lucke und Henkel im Europaparlament gegen die Rechten: Sie und andere AfD-Abgeordnete schlossen Marcus Pretzell – Chef des mitgliederstärksten AfD-Verbandes Nordrhein-Westfalen und späterer neuer Lebensgefährte von Frauke Petry – aus ihrer Gruppe aus, weil er vertrauliche Informationen aus den Sitzungen der Gruppe verfälscht an die Presse weitergegeben hat, um einen andren AfD-Abgeordneten zu diskreditieren.
Im Mai 2105 gründete Bernd Lucke dann den Verein „Weckruf 2015“, dem sich mehrere Europaabgeordnete, einige Landesvorsitzende und andere Spitzenfunktionäre aus dem gemäßigten Lager anschlossen. Ziel war, die Machtübernahme von Vertretern der Neuen Rechten zu verhindern, um die „Existenz und Einheit“ der Partei zu wahren, den gemäßigten Flügel zu stärken und Parteiaustritte von gemäßigten Mitgliedern zu verhindern. 4000 Anhänger von Lucke schlossen sich dem Weckruf an, 2600 von ihnen befürworteten nach Luckes-Parteiaustritt später die Gründung einer neuen euro-kritischen Partei.
Mit dem Weckruf 2015 eskalierte der Konflikt im Bundesvorstand. Die Vorstandsmitglieder Gauland und Petry werteten ihn als Spaltversuch und Vorbereitung eines möglichen Massenaustritts von Lucke-Anhängern und kritisierten ihn als parteischädigend und satzungswidrig.
Das alte „Ich“ stirbt“…
Am 4. Juli 2015 kam es dann schließlich zur Spaltung: Der Mitgliederparteitag in Essen wählte in einer Kampfabstimmung Frauke Petry mit 60 % zur ersten Parteisprecherin. Bernd Lucke kam lediglich auf 38 %. Der damals noch wirtschaftsliberale, mittlerweile aber auch radikalisierte Jörg Meuthen wurde zum zweiten Parteisprecher gewählt. Mit diesem Sieg hat der nationalkonservative Flügel noch stärker die Führung übernommen und ist die Partei weiter nach rechts gerückt. Unverantwortlich für diese Entwicklung ist Bernd Lucke selbst aber nicht. Er hat immer wieder die rechten Geister gerufen – beispielsweise in dem Versuch, Thilo Sarrazin für die AfD zu gewinnen -, um auch Wähler von rechts anzuziehen, und ist sie irgendwann nicht mehr los geworden.
Dramaturgisch gesehen ist der Essener Parteitag und die Abwahl von Lucke auf der Beziehungsebene der Story der Tiefpunkt bestehend aus „symbolischem Tod“ und „symbolischer Wiedergeburt“. Symbolischer Tod heißt: Das „alte Ich“ stirbt. Symbolische Wiedergeburt heißt, das „neue Ich“ wird geboren. Der Protagonist kommt von der Katastrophe in die Hoffnung: Der Parteitag hat den Führungskampf beendet.
So sah das auch Frauke Petry: Die Partei werde jetzt wieder befriedet, da dieser Befreiungsschlag sie von einem selbstzerstörerischen Machtkampf erlöst habe. Am Kurs der Partei wollte sie jedoch nichts ändern, sondern die Euro-Rettungspolitik als wichtigstes Thema vorantreiben und nicht die Flüchtlings- und Asylpolitik. Wie sich mittlerweile gezeigt hat, konnte sie sich damit nicht durchsetzen oder es war eine Lüge. Sollte es keine Lüge gewesen sein, dann hat sie kurzerhand opportunistisch ihre Meinung geändert und die Chance beim Schopf gepackt oder sie hat keine Macht in der Partei, was bedeutet dürfte, dass sie sich auf Dauer nicht an der Spitze halten können wird.
Bernd Lucke ist nach seiner Niederlage aus der Partei ausgetreten und mit ihm ungefähr 10% der Mitglieder. Mit seiner neu gegründeten Partei „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (ALFA) scheint er den Weg in die politische Bedeutungslosigkeit angetreten zu sein.
Einige Parteienforscher und Journalisten sahen die Partei nach dem Essener Parteitag am Ende, da eine „Rumpf-AfD“ auf Bundesebene keine Chance habe (Oskar Niedermayer), der Partei unter Frauke Petry die Abgrenzung nach rechts außen nicht gelingen und sie deshalb zerbrechen werde (Frank Decker) und weil die „rechte Zone“ den meisten Deutschen „zu eklig“ sei (Joachim Käppner). In der ersten Zeit nach dem Essener Parteitag schienen sie recht zu haben: Die Umfragewerte der Partei sanken laut Forschungsgruppe Wahlen im August von 4% auf 3%.
„… das neue „Ich“ wird geboren“: die Nationalisten
Doch dann sind die Flüchtlinge in Deutschland angekommen – für die AfD ein Geschenk des Himmels, weil sie seit dem ein Storytelling betreiben kann, das direkt auf die existenziellen Ängste der Menschen zielt und sie schürt, insbesondere die Angst vor Identitäts- und Kontrollverlust durch Überfremdung (dazu im dritten Teil des Artikels mehr). Mit Erfolg: Die Umfragewerte stiegen bis Dezember 2015 auf 9%.
Die dritte Radikalisierung: Identitätsverlust durch Überfremdung
Dieser Erfolg führte zum nächsten Radikalisierungsschub: Die Hetze gegen Flüchtlinge zieht bei den Bürgerinnen und Bürgern, also wird weiter gehetzt. So hält beispielsweise Anfang November 2015 Marcus Pretzell „die Verteidigung der deutschen Grenze mit Waffengewalt als Ultima Ratio“ für „eine Selbstverständlichkeit“. Er glaubt allerdings, dass ein Schuss in die Luft reicht, da „die Menschen ja vernunftbegabt“ sind.
Mit dieser Radikalisierung in den Anti-Flüchtlingsstorys trifft die AfD bei den Ängsten vieler Bürgerinnen und Bürger ins Schwarze. Auch sie radikalisieren sich, wie die Begründung von spiegel.de zur Schließung von Foren unter Artikeln über Flüchtlinge zeigt: „Leider erreichen uns zum Thema Flüchtlinge so viele unangemessene, beleidigende oder justiziable Forumsbeiträge, dass eine gewissenhafte Moderation nach den Regeln unserer Netiquette kaum mehr möglich ist.“
Mit der Ankunft der Flüchtlinge hat sich die Radikalisierungsdynamik der AfD also enorm erhöht und wird 2016 noch weiter zunehmen. Insbesondere die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln haben der Radikalisierung einen Schub gegeben, vermutlich den bisher sogar größten. Waren die Anti-Flüchtlings-Storys der AfD bis dahin noch Behauptungen, wurden sie für viele Bürgerinnen und Bürger durch die Übergriffe bestätigt: Die Umfragewerte sprangen im Januar 2016 auf 11%.
Danach setzt sich die Radikalisierung Schlag auf Schlag fort: Jetzt spricht auch Frauke Petry davon, „notfalls von der Schusswaffe Gebrauch zu machen“. Wie Pretzell gehört für sie der „Einsatz von Waffengewalt“ zur „Ultima Ratio“. Noch deutlicher wird Beatrix von Storch auf ihrer facebook-Seite: „Wenn Sie das HALT an der Grenze nicht akzeptieren, „können die Vollzugsbeamten im Grenzdienst Schusswaffen auch gegen Personen einsetzen.“ (§ 11 UZwG).“ Auf einen Kommentar zu diesem Post, in dem die Frage „Wollt Ihr etwa Frauen mit Kindern an der grünen Wiese den Zutritt mit Waffengewalt verhindern?“ antwortet sie mit „Ja“.
Auch diese Radikalisierung der AfD wird von vielen Menschen belohnt: Im März zieht die AfD in drei weiter Landtage ein. In Rheinland-Pfalz erzielt sie 12,6%, in Baden-Württemberg 15,1% und in Sachsen-Anhalt wird sie mit 24,2% sogar zweitstärkste Kraft. Insbesondere das Ergebnis in Sachsen-Anhalt unter dem Landesvorsitzenden André Poggenburg dürfte dem völkischen Flügel der AfD weiter Aufschwung und Einfluss in der Partei und ihrer Führung verleihen.
Die vierte Radikalisierung: europäische Kooperationen
Die nächste Stufe der Radikalisierungsdynamik der AfD findet mit ihrer Annäherung an die FPÖ, den Front National und an Pegida statt. So veranstaltet Marcus Pretzell im Februar 2016 eine Konferenz mit Frauke Petry, FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache und FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky, die eine „Blaue Allianz“ der Zusammenarbeit beschließen. Auch die FPÖlerin und Ex-Bundespräsidentenkandidatin Barbara Rosenkranz tritt im April bei der AfD auf und wettert dort gegen Gender Mainstreaming, die Auflösung der traditionellen Familie und die „Frühsexualisierung“ schon im Kindergartenalter, womit sie exakt auf der Linie von Beatrix von Storch ist. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Nauen tritt Vilimsky mit Gauland, Höcke und Poggenburg auf und verkündet, dass er „sehr dafür plädieren [würde], dass wir gemeinsam in einer eurokritischen Fraktion wirken“.
Anfang Juni traf sich Petry mit Strache symbolträchtig auf der Zugspitze. Dort kündigte der FPÖ-Chef an, Petry unter die Arme zu greifen, damit „auch in Deutschland eine Freiheitspartei an Stärke zulegt“. Beide Parteien richten nun Arbeitsgruppen ein, die erste davon zum Thema Euro und Währung.
Auch an den noch extremeren Front National nähert sich die AfD weiter an. Bereits 2015 gratulierten Poggenburg und Höcke ihm zu seinem Wahlsieg. Dazu sagte Poggenburg: „Frankreich und Europa dürfen noch hoffen! […] Für unsere Vaterländer, für unser gemeinsames europäisches Haus geht es in dieser historischen Wendezeit um Sein oder Nichtsein. Die in- und ausländischen Altparteien stehen auf der Seite des Nichtseins. Unsere Verbündeten stehen auf der Seite des Seins.“ Die „Patriotische Plattform“ von Hans-Thomas Tillschneider lehnte sich noch weiter aus dem Fenster: „Marine Le Pens Kampf ist unser Kampf; ihr Sieg ist unser Sieg!“
Höcke sieht zwischen der AfD und dem FN viele Gemeinsamkeiten: Wie die AfD setze sich der FN gegen eine „weitere Überfremdung ein“ und für den „Erhalt der Identität der europäischen Völker“. Auf seinem Landesparteitag im April erklärte er den FN zum Teil einer „europäischen Vernetzung“. Der FN sei zwar zum Teil ein „sozialistisches Gefüge“, da er aber auch gegen den „EU-Totalitarismus“ stehe, sei eine Zusammenarbeit notwendig: „Wenn es in Europa um alles oder nichts geht, müssen wir das Gemeinsame herausstellen – und nicht das Trennende.“
Auch Gauland ist für eine Zusammenarbeit mit dem FN: Falls sich eine Fraktion der EU-Kritiker unter Beteiligung des FN formiert, sollten die AfD-Abgeordneten dieser beitreten. Die einstigen Vorbehalte des AfD-Vorstands gegen eine Zusammenarbeit mit europäischen Rechtspopulisten haben sich ihm zufolge „weitgehend entkrampft“.
Für den sich radikalisierenden Jörg Meuthen – nach dem Essener Parteitag einer der letzten führenden Vertreter des liberalen Flügels bis zu seiner Äußerung über das „leicht versiffte 68-er Deutschland“ auf dem Stuttgarter Parteitag – ist eine Zusammenarbeit mit dem FN zwar „für die politische Wahrnehmung schwierig“ und bereitet ihm „Unbehagen“. Die Parteispitze werde ihr aber nicht im Wege stehen. 2015 rüffelte er noch Höcke und Poggenburg, die den Wahlsieg des FN laut bejubelt hatten.
Im Juli 2015 – also vor der Ankunft der Flüchtlinge – sagte Frauke Petry in einem ZEIT-Interview: „Mit dieser Partei hat die AfD nichts gemeinsam.“ Anfang Oktober 2015 sah sie im FN noch eine „weitgehend sozialistische Partei“, die sich „im linken Spektrum“ bewege und mit der es wenig Überschneidungen gebe. In dem ZEIT-Interview sagte sie übrigens auch: „Wir wollen diese Partei [die AfD] keinesfalls mehr nach rechts rücken, sondern den liberal-konservativen Kurs beibehalten.“ Diesen Kurs hat sie mittlerweile aufgegeben. Genauso wie ihre Meinung über den FN: Nachdem der FN sie im Mai zu einem Gespräch eingeladen hat, weil er sich im Europaparlament eine engere Kooperation mit der AfD wünscht, erklärt Petry, dass eine „Zusammenarbeit mit dem Front National auf europäischer Ebene […] realpolitisch geboten“ ist.
Diesem Treffen steht nun plötzlich Gauland skeptisch gegenüber. Er hält es nicht für „sinnvoll, jetzt ein symbolträchtiges Treffen zwischen Marine Le Pen und Frauke Petry zu organisieren“, weil ein solches Treffen zu Problemen innerhalb der Partei führen könne. Auch Beatrix von Storch ist gegen eine engere Zusammenarbeit, allerdings nicht wegen dessen rechtsextremer und rassistischer Politik, sondern aufgrund seiner sozialistischen Wirtschaftspolitik.
Auch auf EU-Ebene nähert sich die AfD der FPÖ und dem FN an: Nach seinen Äußerungen zum Schusswaffengebrauch und seiner Einladung der FPÖ-Oberen verärgerte Pretzell seine Kolleginnen und -kollegen von der Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformisten“ (EKR) im Europäischen Parlament, die ihm und Beatrix von Storch den Ausschluss aus der Fraktion androhten. Beide machten zunächst von der AfD-typischen Opferargumentation Gebrauch, indem sie Absprachen auf allerhöchster Ebene vermuten und Angela Merkel und David Cameron für ihren bevorstehenden Ausschluss verantwortlich machen: David Cameron brauche deutsche Steuergelder, um die britischen Wähler vor der Brexit-Abstimmung im Sommer „gefügig“ zu machen. Dafür sei er auf Angela Merkel angewiesen und deshalb soll der AfD nun kurz vor den Landtagswahlen geschadet werden: „Das politische Amok-Paar Merkel-Cameron wittert seine letzte Chance.“.
Von Storch wechselte daraufhin Anfang April in die Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD), die von der britischen UK Independence Party (UKIP) und dem italienischen MoVimento 5 Stelle (M5S) dominiert wird. Pretzell gab beim Bundesparteitag in Stuttgart bekannt, in die Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“ einzutreten, der die FPÖ, der Front National, Geert Wilders „Partei der Freiheit“ und die Lega Nord angehören – eine sehr illustre Gesellschaft von Rechtspopulisten und -extremisten. Auf dem Parteitag verlas er auch ein Grußschreiben der FPÖ, unterschrieben von Heinz-Christian Strache und Norbert Hofer.
Über Pretzells Beitritt freut sich auch der Delegationsleiter des Front National im Europaparlament. Für ihn ist Pretzell ein „wichtiges Werkzeug im Kampf gegen die EU und gegen Madame Merkel“.
An diesem Beispiel lässt sich die Radikalisierung der AfD besonders gut erkennen. Denn die Aufnahme in die EKR-Fraktion war ursprünglich ein Prestigeprojekt der AfD, das von Bernd Lucke eingefädelt worden war. In einer Fraktion mit den britischen Torries zu sitzen, galt ihm als Schutzschild gegen den Vorwurf, rechtsradikal zu sein. Auch die Bildung einer gemeinsamen Fraktion mit dem FN und Wilders „Partei für die Freiheit“ wurde von der AfD zu Luckes Zeiten noch abgelehnt. Jetzt haben die beiden AfD-Fraktionsmitglieder Pretzell und von Storch die EKR verlassen und sind in genau jene Fraktionen eingetreten, von denen sich Lucke abgrenzen wollte.
Auch an der Frage nach dem Verhältnis zu und dem Umgang mit Pegida ist im Frühsommer 2016 wieder Streit entbrannt. Der Vorstand fordert eine deutliche Distanz zu Pegida, die aber nicht alle Mitglieder einnehmen wollen, allen voran wieder der Anführer des völkischen Flügels Björn Höcke. Er sieht in Pegida einen Partner und will sich seine Auftritte bei Pegida-Veranstaltungen nicht vom Parteivorstand verbieten lassen, da Pegida ein Katalysator für die AfD ist. Die Patriotische Plattform in der AfD hat mittlerweile angekündigt, den als Rückschritt empfundenen Vorstandsbeschluss vor dem Parteischiedsgericht anzufechten. Schließlich habe Marcus Pretzell selbst die AfD zur Pegida-Partei ernannt.
Die fünfte Radikalisierung: Identitätsverlust durch Islamisierung
Einen weiteren Radikalisierungsschub erfährt die Partei auf ihrem Parteitag in Stuttgart im April 2016, auf dem sie sich eine neue inhaltliche Ausrichtung gibt, mit der sie auf eine noch tiefere Spaltung der Gesellschaft setzt als bisher: ihre pauschale Ablehnung des Islam als Religion, der sie das grundgesetzlich verankerte Recht auf Religionsfreiheit abspricht.
Auf eine gewisse Weise hatte dieser Parteitag etwas Schizophrenes: Auf der einen Seite wollte die Parteiführung nach außen hin demonstrieren, dass sie eine demokratische Partei ist, die basisdemokratischere Entscheidungen trifft als die anderen Parteien (auch wenn der Ablauf tatsächlich unter einem straffen, nicht gerade demokratischen Regime stand). Auf der anderen Seite zeigt sie mit ihren Positionen zum Islam ihre Radikalität, ihre anti-freiheitliche und anti-demokratische Haltung.
Das beweist sie mit ihrem Entschluss, die Aussage „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ in das Grundsatzprogramm aufzunehmen. Denn es gab einen Antrag, der diese Aussage in „Der politische Islam gehört nicht nach Deutschland“ differenzieren wollte. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Das heißt, der AfD geht es nicht um den politischen, also radikalen Islam, sondern um den Islam als Religion als solcher. Damit will sie die Religionsfreiheit als eine der tragenden Säulen einer liberalen Demokratie aushebeln.
Frauke Petry hat im Anschluss an den Parteitag in der Talk-Show von Anne Will zwar sehr wohl differenziert und sich auf den radikalen Islam in seiner salafistischen und wahhabistischen Form bezogen, und sich damit wieder der „zwei-Schritte-nach-rechts-einer-zurück“-Strategie in Kombination mit einer Opfer-Argumentation bedient: Irgendjemand – oft Gauland, Höcke oder Poggenburg – prescht mit einer radikalen Äußerung nach rechts, fühlt sich dann missverstanden und Petry nimmt sie wieder zurück oder differenziert sie, falls sie auf zu großen Widerspruch stößt. Im Falle der Aussage „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ zu behaupten, dass sie so pauschal nicht gemeint ist, ist jedoch verlogen, nachdem ein Antrag auf eben genau diese Differenzierung, die Petry nun vornehmen will, in Bausch und Bogen abgelehnt wurde.
Übrigens: Eine Studie der Kölner Journalistenschule, die den Wahrheitsgehalt von Politiker-Aussagen in Talk-Shows untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass Frauke Petry mit 26,3% die meisten Falschaussagen aller Talk-Show-Gäste hat.
Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass die AfD mit dem Parteitag in Stuttgart den Schwenk auf die Linie der rechtspopulistischen europäischen Parteien vollzogen hat, die sich durch Islamfeindlichkeit auszeichnen und damit erfolgreich sind.
Im Hinblick auf eine dauerhafte Verankerung der Partei in der medialen Berichterstattung und auf eine wachsende Wählerschaft ist diese inhaltliche Neuausrichtung für die Partei existenziell so notwendig wie ihr Kurswechsel von der Euro-Kritik zur Flüchtlingskritik. Griechenland und überhaupt das Thema Euro-Krise waren 2015 nicht mehr der große Aufreger wie noch die Jahre zuvor, besaßen auch und vor allem medial nicht mehr die Aktualität und Brisanz. Mit dem Verschwinden dieser Themen aus den Medien wäre die Gefahr groß gewesen, dass auch die AfD verschwindet. Durch den Wechsel zur Flüchtlingskrise als Hauptthema, konnte sie das verhindern. Außerdem war das Flüchtlingsthema an das Griechenland-Thema anschlussfähig: Saßen in der Euro-Rettung die faulen Ausländer, die nur unser Geld wollen, noch in Griechenland, stehen sie nun vor unserer eigenen Haustür oder sogar schon mitten im Haus. Das ist dramaturgisch betrachtet geradezu eine klassische Konfliktsteigerung, die die AfD für sich zu nutzen wusste.
Aber auch das Flüchtlingsthema ist in der für die AfD wichtigen medialen Öffentlichkeit ein zeitlich befristetes. Zwar wird es auf Jahre hinaus unsere Gesellschaft prägen und die Politik beschäftigen. Aber sein Erregungspotenzial und seine mediale Präsenz sinken bereits (aktuell insbesondere durch das Ergebnis des Brexit-Referendums) und dürften bis zu den Landtagswahlen dieses und nächstes Jahr und der Bundestagswahl weiter kontinuierlich sinken, sofern nicht etwas Unvorhergesehenes passiert. Aber genau das ist es, was die AfD wie jede junge Partei braucht: Erregung und mediale Aufmerksamkeit.
Beides erzielt sie mit ihrem Wechsel von der Flüchtlingshetze zur Islamablehnung als Hauptthema. Damit hat die Partei nun ein Dauerthema, das sie zuvor nicht hatte. In ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung ist sie also gefestigter. Denn es gibt nicht nur viele Menschen in Deutschland, die Angst vor dem Islam und vor Muslimen haben, noch wichtiger ist, dass der Islam immer wieder ein Erregungsthema in den Medien sein wird, nämlich spätestens dann, wenn der Islamische Staat einen Anschlag verübt. Hier zeigt sich wieder, dass das Storytelling des IS und der AfD voneinander abhängig sind und die Medien sich immer wieder zu Verbündeten von deren Storytelling machen.
Die sechste Radikalisierung: der Dexit
Auch den Brexit lässt sich die Partei nicht entgehen, um sich weiter zu radikalisieren. Im Stuttgarter Grundsatzprogramm tritt sie noch dafür ein, die EU zurückzuführen in eine Wirtschafts- und Interessensgemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten. Einen Austritt Deutschlands aus der EU will sie nur dann anstreben, wenn sich ihre grundlegenden Reformansätze im bestehenden EU-System nicht verwirklichen lassen. Durch das Brexit-Referendum beflügelt strebt sie jetzt allerdings so schnell wie möglich ein Referendum über einen Dexit an.
Allerdings deutet sich hier im Verhalten der führenden Köpfe der Partei schon der nächste Radikalisierungsschub an, der zu einer zweiten Spaltung der Partei führen dürfte.
Die siebte Radikalisierung und zweite Parteispaltung: die Übernahme der Partei durch die Völkischen
Wie schon seit längerem vorherzusehen war, gerät Frauke Petry seit kurzem unter Druck. Ähnlich dem Essener Parteitag 2015, auf dem Bernd Lucke von der Parteispitze verdrängt wurde, befindet sich die Partei auch jetzt am Anfang eines neuen Richtungs- und Führungsstreit. Nicht nur lassen sich die Protagonisten am rechten Rand – Gauland, Höcke, Poggenburg – zusehends weniger in Zaum halten, da sie sich selbst in ihren radikalen Äußerungen immer schwerer deckeln können und Petry nicht jedesmal ihre Aussagen relativieren kann. Auch von weniger radikalen Parteimitgliedern wird das Verhalten von Petry offen kritisiert. Bemängelt wird in erster Linie, dass sie viele ihrer Aktionen nicht mit dem Parteivorstand abspricht, sondern als Alleingänge durchzieht.
So heißt es in einem Schreiben der beiden Mitglieder des Bundesvorstands Georg Pazderski und Alice Weidel Anfang Juni: „Einzelaktionen, die Eigenprofilierung Einzelner zu Lasten des Bundesvorstandes und mangelnde Koordination und Information müssen unterbunden und abgestellt werden“. Nach Bekanntwerden des Schreibens betonte Weidel allerdings, dass der Inhalt des Schreibens nicht an Petry adressiert war. Sie will Petry nicht beschädigen, weil sie befürwortet, dass Petry als Spitzenkandidatin in den Bundestagswahlkampf zieht. Interessant ist die Parallele zu Bernd Lucke. Vor dem Essener Parteitag war es Frauke Petry, die mahnte, die Partei dürfe unter Lucke nicht zur One-Man-Show werden. Nicht allzu lange danach trat er zurück.
Genau an dieser Frage der Spitzenkandidatur scheiden sich jedoch die AfD-Geister und spaltet sich der Bundesvorstand: auf der einen Seite die Petry-Befürworter, auf der anderen die Petry-Gegner, die sie im Vorstand isolieren und sie als Spitzenkandidatin verhindern wollen. So beispielsweise Jörg Meuthen, der Alice Weidel als Spitzenkandidatin ins Spiel brachte, die ihm aber eine Absage erteilte. Zu den Petry-Kritikern gehört natürlich auch Björn Höcke, der die Partei weiter nach rechts führen will. Petry steht ihm dabei im Weg. Höcke dürfte außerdem noch eine persönliche Rechnung mit ihr offen haben, nachdem sie eine Ordnungsmaßnahme gegen ihn wegen rassistischer Äußerungen befürwortet hatte.
Risikofaktor Frauke Petry
Petry wackelt, da sie mehr und mehr zum Risikofaktor für die Partei wird, zumindest für den rechten Flügel. Denn gegenwärtig kann die Glaubwürdigkeit der Anti-Eliten-, Anti-Flüchtlings- und Anti-Islam-Storys (siehe dazu Teil 3 dieses Artikels) nur durch das Verhalten des Führungspersonals selbst geschwächt werden, wenn es den eigenen Storys widerspricht, indem es sich beispielsweise der verhassten Elite annähert oder gemeinsame Sache mit ihr oder die gleiche Sache wie sie macht: Über die Lügenpresse herzuziehen und dann mit ihrem neuen Lebensgefährten Marcus Pretzell auf den Presseball zu gehen, ist nicht überzeugend und glaubwürdig. Dass sie Fraktionsgelder missbraucht haben soll, schwächt ebenfalls das AfD-Storytelling, selbst wenn es nicht wahr sein sollte. Denn das ist etwas, was die anderen Parteien machen, aber nicht die Recht-und-Ordnung-Partei AfD. Und Petry hat sich noch nicht in eine Position gearbeitet, in der die Parteimitglieder und Wählerinnen und Wähler ausschließen, dass sie zu so etwas fähig sein könnte.
Auch dass Petry sich von ihrem Ehemann – ausgerechnet einem evangelischen Pfarrer – getrennt hat, dürfte den christlich-reaktionären Vertretern und Befürwortern eines traditionellen Familienbilds nicht gefallen. Zu ihrem Glück wurde ein Passus, der das Schuldprinzip bei Ehebruch in Scheidungsverfahren wiedereinführen sollte, doch nicht ins Parteiprogramm aufgenommen. Denn demnach müsste derjenige, der ein schwerwiegendes Fehlverhalten gegen die eheliche Solidarität begangen hat, bei der Scheidung benachteiligt werden. Frauke Petry hätte damit nicht den Maßstäben der Partei entsprochen.
Ihr Verhalten beim Treffen mit dem Zentralrat der Muslime war auch ein Storytelling-Schuss, der nach hinten losging. Sie wollte mit ihrem Abbruch der Gespräche die Story beweisen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, da er nicht dialogfähig ist. Dann wurde jedoch bekannt, dass ihr Abbruch des Gesprächs zum Zwecke der Selbstinszenierung von vornherein geplant war, was der Aufrichtigkeit eines guten deutschen Staatsbürgers widerspricht.
Aus der Perspektive des Storytelling ist Frauke Petry damit eine der spannendsten Personen des AfD-Führungspersonals: Einerseits ist sie eine wichtige Gallionsfigur, die mit ihrem Sieg über Bernd Lucke auf dem Essener Parteitag eine Richtungsänderung eingeleitet hat, andererseits ist sie ein Risikofaktor für die Partei. Dass sie deswegen immer wieder vor allem vom rechten Parteiflügel angegangen wird, wundert nicht. Und momentan sieht es so aus, als ob die Rechten sie bald stürzen werden.
Auf der Handlungsebene ist die Partei also nach wie vor erfolgreich: Die Umfragewerte liegen stabil im zweistelligen Bereich. Der Friede und die Einheit auf der Beziehungsebene seit dem Essener Parteitag sind jedoch wieder dahin. Der Abgang Frauke Petrys aus der Parteispitze und wahrscheinlich auch aus der Partei ist absehbar. Die Frage ist, ob es zu einer ähnlichen Spaltung der Partei kommt wie nach dem Ausscheiden Bernd Luckes. Einige der Petry-Anhänger dürfen mit ihr gehen. Und mit der Machtübernahme durch die Völkischen dürften auch die letzten Liberalen die Partei verlassen. Ob die Nationalisten eine ausreichend große Schnittmenge mit den Völkischen finden werden oder sich ebenfalls weiter radikalisieren, wird sich zeigen. Viele von ihnen haben mit dem neuen Kurswechsel sicher nicht so viele Probleme wie die Liberalen sie mit dem nationalistischen Schwenk vor einem Jahr hatten. Dafür sind die Gemeinsamkeiten dann doch zu groß.
Weiterentwicklung und Auflösung des Konflikts: innere und äußere Erfolgsfaktoren der AfD
Die AfD befindet sich aus der Perspektive des konflikt- und handlungsbasierten Storytelling auf der strukturellen Ebene der Drei-Akt-Struktur im zweiten Akt, in der Konfliktaustragung. Wie könnte sich der Konflikt weiterentwickeln? Was könnte der zweite Wendepunkt, also der Übergang in die Konfliktauflösung, sein? Und wie könnte der Konflikt im dritten Akt aufgelöst werden?
Mehrere Szenarien sind denkbar: Im ersten Szenario ist der Sturz Frauke Petrys der zweite Wendepunkt. Im dritten Akt radikalisiert sich die Partei weiter und so weit ins völkische Gedankengut, dass sie für viele Menschen nicht mehr wählbar ist. Als Folge davon scheitert sie an der Fünfprozent-Hürde, verschwindet in Wahlumfragen und -ergebnissen in der Kategorie „Andere“ und dümpelt im Höhepunkt der Story – der Auflösung des Konfliktes – als nicht mehr erwähnenswerte Partei vor sich hin oder zerlegt sich selbst.
Die große Unbekannte in diesem Szenario sind die Wählerinnen und Wähler: Wie weit tragen sie eine Radikalisierung mit? Wie stark ist ihre Demütigung? Wie groß sind ihre Wut und ihr Hass, ihre Ablehnung der politischen, medialen und wirtschaftlichen Elite, ihr Gefühl, fremdbestimmt zu sein, ungerecht behandelt und zum Opfer gemacht zu werden? Wie mächtig ist ihre Angst vor Kontroll- und Identitätsverlust, vor Überfremdung und Islamisierung, vor Flüchtlingen und Muslimen und Muslimas? Wie sehr haben sie aus Angst vor Kontrollverlust selbst die Kontrolle über sich verloren? Wie entfesselt lassen sie ihren Vorurteilen und Ressentiments freien Lauf? Wie weit haben sich all diese die Gesellschaft, die Mitmenschlichkeit und die Solidarität zersetzenden Gifte in die Mitte der Gesellschaft reingefressen?
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass es einer Partei so schnell gelingt, die Ängste so vieler Menschen dermaßen zu verstärken, dass es zu einer Spaltung unserer Gesellschaft kommt. Deshalb ist für mich auch überhaupt nicht absehbar, wie viele Menschen den Weg der AfD wie weit mitgehen.
Im zweiten Szenario bleibt Frauke Petry an der Spitze oder die weitere Radikalisierung führt doch nicht so weit, dass Szenario eins eintritt. Dann dürfte die AfD in den nächsten Wahlen erfolgreich sein und in die Parlamente einziehen: im September in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und in das Abgeordnetenhaus in Berlin, im März 2017 in den Landtag vom Saarland, im Mai in die Landtage von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und im September in den Bundestag.
Innerhalb dieses Szenarios gibt es zwei Möglichkeiten: Die Abgeordneten – insbesondere die des Bundestages – zeigen, dass sie unfähig sind, indem sie wie eine Kollegin im thüringischen Landtag beispielsweise eine statistische Erhebung fordern, die auflisten soll, wie viele Homo-, Bi- und Transsexuelle in Deutschland leben. Durch dieses Verhalten könnte sich die Partei selbst zerlegen. Bei den nächsten Wahlen würde sie dann wieder aus den Parlamenten fliegen oder zumindest stark an Zustimmung verlieren. Der Einzug in den Bundestag wäre in diesem Szenario der zweite Wendepunkt, der Rausflug der Höhepunkt und die Auflösung des Konflikts.
Oder – zweite Möglichkeit – sie zerlegen sich nicht selbst und die AfD wird zu einer stabilen Kraft in der politischen Landschaft Deutschlands. Dann ist die Frage entscheidend, ob sie eine mögliche Regierungsbeteiligung anstrebt, wie das Frauke Petry mittel- bis langfristig vorschwebt, oder Fundamentalopposition betreiben will, wofür der extreme Flügel der Partei plädiert. Eine Regierungsbeteiligung oder gar – Gott bewahre – die absolute Mehrheit irgendwann wäre dann der Höhepunkt der Story und die Auflösung des Konflikts zuungunsten der liberalen Demokratie.
Ob die AfD erfolgreich sein wird oder nicht, hängt zum einen von ihrem Personal und ihrer weiteren Radikalisierung ab. Zum anderen vor allem sowohl vom Verhalten der anderen Parteien und ihren Strategien in der Auseinandersetzung mit der AfD als auch vom Umgang der Medien mit ihr, aber auch von Faktoren, die nicht beeinflussbar sind: So wie beispielsweise Fukushima das beste war, was den Grünen vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg passieren konnte, wäre ein IS-Attentat in Deutschland vor den nächsten Bundestagswahlen das Beste, was der AfD passieren könnte. Weder wollten die Grünen eine Atomkatstrophe, noch dürfte die AfD Terroranschläge in Deutschland wollen – aber sie profitieren davon.
Andere Faktoren, die beeinflussbar sind, sind das politische Handeln der Parteien und die Berichterstattung in den Medien. Auch davon kann die AfD profitieren, wenn die Parteien und Medien nicht reflektierter werden, sondern weiter blind in diverse AfD-Fallen tappen. So ist beispielsweise die Wahl zum nächsten Bundespräsidenten von Bedeutung. Die AfD hat darauf zwar keinen unmittelbaren Einfluss. Aber das Verhalten der anderen Parteien wirkt sich auf potenzielle AfD-Wähler aus, indem sie damit die Anti-Eliten-Storys der AfD bestätigen oder widerlegen.
Leider tun die anderen Parteien derzeit ihr Möglichstes, um die AfD-Storys zu bestätigen. Sie demonstrieren, dass es ihnen nicht um das Wohl der Gesellschaft, das Amt des Bundespräsidenten und die bestmögliche Person dafür geht, sondern um Partei- und vor allem Machtpolitik: Doch schon bevor Joachim Gauck angekündigt hat, nicht mehr zu kandidieren, geht das partei- und machtpolitische Gezänke schon los: Gabriel schlägt Merkel Steinmeier als gemeinsamen Kandidaten vor. Ginge es um Parteipolitik – was es wie gesagt nicht sollte -, wäre das ein interessanter Schachzug. Denn er stürzt Merkel in ein Dilemma: Akzeptiert sie Steinmeier als gemeinsamen Kandidaten, bekommt sie Gegenwind aus der Union, dem sie kaum wird standhalten können. Lehnt sie Steinmeier ab, gibt sie der SPD eine Steilpassvorlage, indem sie ihr die Möglichkeit eröffnet, zu behaupten, dass es der CDU sogar beim Amt des Bundespräsidenten nur um Partei- und Machtpolitik geht, der SPD hingegen ausschließlich um die bestmögliche Besetzung des Amtes. Die SPD hätte sich hier also wunderbar von der CDU abgrenzen können. Doch sie lässt die Chance liegen, nachdem Merkel Steinmeier abgelehnt hat. Stattdessen keilt Oppermann zurück: Kein CDU-Politiker wird Bundespräsident werden, weil – man achte auf die Begründung – die CDU keinen SPD-Politiker haben will: Die Union habe „klar gemacht, dass es kein Sozialdemokrat werden soll. Dann wird es nach Lage der Dinge auch kein Christdemokrat.“
Das ist ein Sandkasten-Gebaren der dümmlichsten Art. Es treibt der AfD scharenweise Wähler zu und zeigt, dass einige Politiker immer noch in den politischen Grabenkampf-Kategorien des letzten Jahrhunderts denken. Ein zeitgemäßer Politik-Stil muss anders aussehen. Dieses Gebaren ist es auch, das nachvollziehbarerweise immer mehr Menschen sich angewidert von den etablierten Parteien wegdrehen lässt. Einen besseren Beweis für die Anti-Eliten-Story kann sich die AfD nicht wünschen. Damit tragen die etablierten Parteien dazu bei, dass viele Menschen sagen werden: „Die verhalten sich genauso, wie die AfD es ihnen vorwirft. Es geht ihnen immer nur um sich selbst und um Macht, und wenn sie sogar die Wahl zum Bundespräsidenten für ihr Parteiengezänk und ihre Machtgeilheit missbrauchen, dann sind wir ihnen doch komplett egal. Also können wir auch AfD wählen.“
Ein solches Verhalten in dem Jahr, in dem auch die Bundestagswahl stattfindet, wäre fatal. Genauso fatal könnte der Wahlkampf sein, den die etablierten Parteien betreiben. Es wird der schwerste Wahlkampf seit langem werden, weil sie im Hinblick auf die AfD so viel falsch und so wenig richtig machen können: Ist der Wahlkampf wieder zu selbstbezogen, kann das die AfD stärken. Wird die AfD falsch angegangen, wird es sie auf jeden Fall stärken. Zwei Aspekte sind für die Wahlkampfstrategien der Parteien zentral: Erstens sollte der Fokus in der Auseinandersetzung mit der AfD nicht auf der AfD als Partei liegen, sondern auf der Wirkung bei potenziellen AfD-Wählern. Im vieren Teil des Artikels werde ich darauf genauer eingehen. Zweitens müssen sie darauf achten, dass sie der AfD keine Gründe geben, sich als Opfer darstellen zu können. Denn dadurch erhöhen sie ihr Identifikationspotenzial.
Fazit
Die AfD hat sich in den drei Jahren seit ihrer Gründung enorm radikalisiert. Dieser Radikalisierungsprozess wird sich wahrscheinlich weiter fortsetzen. Wird die AfD damit endgültig zu einer ernstzunehmenden Gefahr für unsere liberale Demokratie? Das hängt von den Wählerinnen und Wählern ab. Denn das Hauptproblem ist nicht, dass die AfD immer radikaler wird. Sondern dass immer mehr Menschen sie aufgrund dieser Radikalisierung wählen. Die Frage ist also: Was motiviert sie dazu? Warum glauben sie den Storys der AfD?
Um diese Fragen geht es im dritten Teil dieses Artikels. In ihm analysiere ich die zentralen Storys der AfD im Hinblick auf ihr Identifikationspotenzial und ihre Anziehungskraft. Es wird sich zeigen, dass die AfD so erfolgreich ist, weil sie mit ihren Storys die Ängste und Sehnsüchte vieler Menschen anspricht. Und weil die Storys der anderen Parteien an Glaubwürdigkeit verloren haben: Die Menschen glauben nicht mehr an ihre Versprechen auf ein besseres Leben.
Der Erfolg der AfD ist also auf die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umstände zurückzuführen, die durch die Politik der Regierungsparteien erschaffen wurden; auf den Vertrauensverlust vieler Menschen in die Vorschläge der Parteien zur Lösung von Problemen, die aus deren Sicht nichts verbessern, sondern alles nur noch verschlimmern; und auf die Verfasstheit der anderen Parteien und den Stil, mit dem sie Politik betreiben.
Was können die Parteien, die Medien und die Menschen tun, um die AfD nicht noch stärker werden zu lassen? Das ist eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft unserer Gesellschaft. Antworten darauf liefert die AfD selbst. Nicht, dass die Umsetzung ihrer destruktiven Lösungsvorschläge irgendetwas verbessern würden. Aber die AfD legt ihren Finger in diverse Wunden. Sie zeigt an, wo viele Menschen der Schuh drückt und verdeutlicht damit Probleme, die dringend gelöst werden müssen.
So verweist sie beispielsweise auf den Vertrauensverlust vieler Menschen in die Eliten der Politik (befeuert u.a. durch die undemokratischen Geheimverhandlungen über TTIP), der Medien (verstärkt durch ihr Verhalten nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht) und der Wirtschaft (begründet vor allem dadurch, dass sich viele Wirtschaftslenker der Verantwortung für ihren Misserfolg entziehen und sich stattdessen obszöne Boni ausbezahlen). Sie spiegelt die nach wie vor mangelhafte Integrations- und Einwanderungspolitik wider, die Mängel in der Gestaltung der Europäischen Union, insbesondere ihr strukturelles und institutionelles Demokratiedefizit und ihre wuchernde Komplexität, die explosiven Ungerechtigkeiten, die durch eine manische Globalisierung und die Hemmungslosigkeit deregulierter Finanzmärkte erzeugt werden, und die Tabuisierung des Themas Islamkritik.
Aus der Perspektive des dramaturgischen Modells der Heldenreise betrachtet, stellt sie den Archetypus des Schattens dar. Der Schatten spiegelt der Hauptfigur ihre blinden Flecken wider, also jene Aspekte, die die Hauptfigur an sich selbst nicht sehen will. Ist man sich dessen bewusst, kann man mit einem Schatten konstruktiv umgehen, etwas über sich lernen und sich weiterentwickeln. Ist es einem nicht bewusst, ist die Reaktion auf ihn heftige Ablehnung. Schließlich will man nicht sehen, was er einem zeigt. Daraus erklärt sich die harsche und ungestüme Reaktion vieler Politiker und Journalisten auf die AfD. Das ist jedoch ein Fehler. Stattdessen sollten sie die AfD als Chance begreifen, ihr Handeln zu überdenken und zu optimieren.
Im Hinblick auf eine bessere, vor allem gerechtere Gestaltung unserer Gesellschaft und der Realisierung der zentralen Werte Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Sicherheit, sollten wir in gewisser Weise sogar dankbar sein, dass es die AfD gibt. Sie macht uns auf viele Probleme aufmerksam und zeigt Lösungen, die wir ausschließen können, da sie destruktiv sind, womit wir auf der Suche nach einer konstruktiven Lösung einen Schritt weiter kommen.