Inspiration – und dann? I: Von der Figur zur Handlung

Langeweile kann eine hervorragende Grundlage für Inspiration sein. Das lehren uns sogar die Geschichten selbst: erst, wenn der Held erkennt, dass er mit seinem Plan gescheitert ist, und sich im Tiefpunkt aller gewohnten Handlungsoptionen beraubt sieht, öffnet er sich neuen ungeahnten Möglichkeiten und Ideen. Anlässlich unserer neuen Häuslichkeit und wiederentdeckten Freizeit in Zeiten der Corona-Krise, eine Hilfestellung für das Entwickeln der ersten (oder zweiten, dritten, vierten, …) großen eigenen Geschichte.

Dieser Artikel ist dafür in vier Teile gegliedert: je nachdem, welcher Art die Inspiration für die Geschichte ist – ob es sich um die Idee für eine interessante Figur handelt, um die Idee für eine spannende Handlung, um die Idee für ein faszinierendes Bild, oder um ein wichtiges Thema –, stelle ich dar, wie von dieser Grundlage ausgehend, die verschiedenen nötigen Dimensionen der Geschichte entwickelt und ergänzt werden können. Der erste Teil: Handlung entwickeln aus einer Figurenidee.

Die Figurenidee skizzieren

Die gute Idee ist eine Figur: vielleicht ein ungewöhnlicher Charakterzug, eine bewegte Vergangenheit, ein wenig beachteter Beruf, eine herausragende Fähigkeit, eine große Lebensaufgabe, eine radikale Haltung. Doch eine Figur allein macht noch keine Geschichte. Die große Frage ist: Was soll diese Figur erleben, was muss sie leisten, welche Frage muss sie beantworten, was muss sie lernen, damit das Publikum an ihr lernen kann? Was ist die Handlung meiner Geschichte?

Die Antwort auf diese Frage lässt sich durch ein Character Mapping erarbeiten, dem Skizzieren der Figur und ihrer Eigenschaften – und dem Übertragen dieser Eigenschaften in Handlung, dorthin, wo sie wirksam werden. Es gibt viele Möglichkeiten eine Figur und ihre Eigenschaften zu skizzieren, für die Übersetzbarkeit in Handlung jedoch möchte ich das Character Mapping der amerikanischen Dramaturgin Laurie Hutzler empfehlen. Laurie Hutzler stellt sechs bloß Fragen an die Figur: ihre Maske, ihre größte Angst, ihre Stärken, ihre Schwächen, ihr Idol und Ideal, und ihr Schatten und dessen Fehler.

Maske bezeichnet, wie sich die Figur ihren Mitmenschen präsentiert, mit Hilfe der Maske verbirgt sie vor ihnen ihre Angst. Stärken der Figur sind jene ihrer Eigenschaften, auf die sie sich immer verlassen kann, auch in Krisensituationen, quasi ihr Werkzeugkasten, mit dem sie ihre Maske aufrechterhält. Schwächen, im englischen Original treffender als »Trouble Traits« bezeichnet, sind die Eigenschaften, die die Figur in Schwierigkeiten bringen, auch dann, wenn gerade eigentlich alles gut läuft. In Schwierigkeiten bringen heißt in diesem Fall auch: die Maske droht zu fallen, die Angst drängt ins Licht. Idol mit Ideal und Schatten mit Fehler fragt nach den Menschen im Leben der Figur, die sie bewundert bzw. verabscheut und der jeweiligen Eigenschaft, auf der dieses Gefühl gründet. Diese Eigenschaften können nun in Handlung übersetzt werden:

Die Figurenidee in Handlung übersetzen

Am Anfang unserer Geschichte steht die Figur, die mit Hilfe ihrer Stärken eine Maske aufrecht erhält, um – oft unbewusst – vor sich und anderen die eigene Angst zu verbergen. Ein Problem, möglicherweise durch die Schwächen der Figur selbst ausgelöst, tritt in dieses Leben, so nachdrücklich, dass es einer Reaktion der Figur bedarf. Das Problem steht in Verbindung mit der Angst der Figur – möglicherweise ist sich unsere Figur dessen bewusst, möglicherweise glaubt sie, noch verhindern zu können, dass es soweit kommt, möglicherweise wird ihr die eigene Angst und ihr Zusammenhang mit dem Problem erst später klar. Unsere Figur beschließt das Problem zu behandeln, und sie weiß auch schon wie: mit ihren Stärken, auf die sie sich immer verlassen kann.

Das funktioniert. Unsere Figur hat sich ja in der Vergangenheit nicht ohne Grund so verhalten, wie sie sich verhält – die Stärken genutzt und die Maske aufgesetzt. Das hat sich bewährt und bewährt sich gerade wieder. Es ist schwieriger, als bei den vielen Malen zuvor, das muss dann auch unsere Figur erkennen und ihre Anstrengungen verdoppeln, aber es funktioniert. Bis es das nicht mehr tut. Die Figur hat sich der Lösung des Problems mühsam Schritt für Schritt angenähert – um dann kurz vor seinem Erreichen zu scheitern. Die Angst, die immer verborgen bleiben sollte, tritt zu Tage: Das Schlimmste, was passieren kann, passiert.
Während die Stärken entlarvt sind, entpuppen sich die Schwächen als Ratgeber.
Hier am Tiefpunkt, den ich schon in der Einleitung erwähnt habe, öffnet sich die Figur. Das Handeln hat versagt und an seine Stelle tritt erst die Klage und dann das Wahrnehmen. Die Figur muss erkennen, dass es die eigenen Stärken waren, die sie in die Katastrophe geführt haben: sie haben die Figur blind gemacht. Im Amerikanischen gibt es dazu das »law of the instrument«: Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, scheint dir jedes Problem als ein Nagel. Oben schrieb ich »(…) und (die Figur) weiß auch schon wie« – im Erzählen stellt sich sicheres »Wissen« meistens als trügerisch da, hier liegt das Potenzial für Charakterentwicklung.

Während die Stärken also entlarvt sind, entpuppen sich die Schwächen als leider bisher überhörte kluge Ratgeber: sie haben von Anfang an das Vorgehen der Figur gestört und immer wieder ihre Angst provoziert: damit die Figur sich mit ihr auseinandersetzen und daran wachsen kann, bevor es zu spät ist. Jetzt ist es zu spät: die Katastrophe ist da. Die Figur ist jetzt gezwungen, sich mit ihrer Angst zu befassen. Bei Soziologen habe ich über die Klimakatastrophe den Satz gefunden: Unsere gesellschaftliche Veränderung kommt – by design or by desaster. In Geschichten ist es immer das Desaster – fast. Denn mit dem neugewonnen Wissen erst über das Problem, dann über sich selbst kann die Figur jetzt einen neuen Weg einschlagen.

Die Betonung liegt dabei auf »kann«. An diesem Wort entscheidet sich, ob die Geschichte im Happy End oder in der Tragödie endet. Eine Figur kann entscheiden, ihren Kurs zu ändern, sie kann aber auch die Erkenntnis verwerfen und ihrem alten Plan und den alten Stärken treu bleiben. Nimmt unsere Figur die Erkenntnis an und beweist ihre Veränderung durch ein verändertes Handeln (das wird die Geschichte nämlich prüfen), zeigt sie damit diejenige Eigenschaft, die sie an ihrem Idol immer so bewundert hat – die lag ihr nämlich gar nicht so fern. Verwirft sie aber die Erkenntnis und beharrt lieber auf der Illusion ihrer vermeintlichen Stärken und ihrer Maske, zeigt sie damit denselben Fehler, den sie an ihrem Schatten immer verabscheut hat – denn auch diese Eigenschaft lag ihr immer näher, als sie vor sich zugegeben hat.

Fazit

So lassen sich die Eigenschaften der Figur in Handlung übersetzen: Ihre Maske bestimmt die Ausgangssituation der Geschichte; ihre Stärken die ersten Anstrengungen zum Lösen des gegebenen Problems; die Angst erfüllt sich vor dem Tiefpunkt; ihre Schwächen sind ihre Sensibilität – im positiven, erkennenden, Sinne; Idol und Ideal sowie Schatten und Fehler zeigen, was die Figur selbst werden kann. Das ist eine bloß grobe Zusammenfassung des Character Mappings von Laurie Hutzler und wie es für die Handlung brauchbar gemacht werden kann; mehr Details gibt es auf ihrer Webseite und in ihren Büchern. Ich lade herzlich dazu ein, unsere neue Langeweile dazu zu nutzen, zu überprüfen, wie hilfreich die Methode sein kann. Die weiteren Artikelteile erscheinen in den kommenden Tagen.

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