Roland Zags Dimensionen filmischen Erzählens

Dimensionen filmischen Erzählens von Film- und Fernsehdramaturg Roland Zag, Anfang Dezember bei Herder erschienen, ist ein ungewöhnlicher Drehbuchratgeber: Weil er neben dem Wie auch das Warum des Erzählens beantworten will, und statt Sicherheit im Bewährten zu suchen Veränderung fordert. Wie schon im Publikumsvertrag liegt Zags Augenmerk auf der Kommunikation zwischen Filmemacherinnen und Publikum. Und das in beiden Richtungen: In der Sensibilität für das veränderte (Er-) Leben des Publikums begründet Zag die Notwendigkeit eines neuen Erzählens, seiner »Dramaturgie der Systeme«.

Die Dimensionen, von denen im Titel die Rede ist bezeichnen die fünf Fragen Zags an eine Geschichte: Nach ihrer Erzählabsicht, der erzählten Zugehörigkeiten, des erzählten Wertekonflikts, dem erzählten Regelwerk, und ihrer Erzählordnung. Besonders um die Zugehörigkeiten der Figuren in ihrem emotionalen Netzwerk und den Entscheidungen für und gegen diese Zugehörigkeiten macht sich Zag dabei verdient (trotz der problematischen begrifflichen Assoziationen zu Besitz und Befehl) und bleibt bei jeder Bewegung der Figur für deren soziale Wirkung aufmerksam. Kommunikation ist damit nicht bloß im Äußeren sondern auch im Inneren der Erzählung sein Programm.
Zag identifiziert gesellschaftliche Veränderungen, die sich im Erzählen niederschlagen.
Solche Fragen der Zugehörigkeit, Zwischenmenschlichkeit und Kommunikation werden in der zweiten Hälfte des Buches besonders spannend und wichtig, wenn es um das Erzählen von protagonistischen und antagonistischen Kollektiven, Netzwerken und Systemen geht. Während Zag nämlich in der ersten Hälfte die Dimensionen und ihre Anwendung in den drei Akten einer Erzählung erläutert (besonders die Besprechung des ersten Aktes möchte ich hier als höchst hilfreich hervorheben), immer auch mit Blick auf ihre Veränderung im Erzählen des 21. Jahrhunderts, wendet er sich in der zweiten Hälfte vom klassischen filmischen Erzählen ab und hin zur »Dramaturgie der Systeme«, zur modernen Serie und zur Arbeit im kreativen Team.

Denn wie schon bei seinem Vortrag »Dramaturgie der Systeme. Eine Drehbuchlehre fürs 21. Jahrhundert?« im November diesen Jahres auf der Dramaturgie-Tagung FilmStoffEntwicklung, über den ich hier für filmschreiben berichtete, identifiziert Zag gesellschaftliche Veränderungen, die sich in erzählerischen Veränderungen niederschlagen und weiter niederzuschlagen sollten: Die Wirksamkeit von Gruppen gegenüber Individuen, die Hilflosigkeit im Umgang mit den Regeln, der Konflikt mit dem »unmenschlichen« System, das Scheitern am Verständnis der Zusammenhänge, die Notwendigkeit zur gemeinsamen statt zur individuellen Entwicklung.

Entsprechende Entwicklungen beobachtet Zag in einigen Filmen der jüngeren Vergangenheit: Die Kooperationen in Dunkirk; die rätselhaften Wirksamkeiten in Lincoln und Interstellar; der Kampf mit dem System in Ich, Daniel Blake; das antagonistische Kollektiv in Spotlight; die Frage nach Regeln in Who Am I und The Hateful Eight. Schon zuvor stellt er eine Öffnung der »klassischen Regeln« in den Filmen und besonders den Serien der letzten zehn Jahre fest. In so unterschiedlichen Werken wie Alles steht Kopf, Liebe, Django Unchained, Nader und Simin – eine Trennung, The Avengers, Toni Erdmann, Ziemlich beste Freunde, und Breaking Bad.
Zags Buch ist eine Erweiterung der erzählerischen Landkarte.
In dieser Auswahl (und auch der weitaus größeren im dafür vorgesehenen Beispielfilm-Kapitel) deutet sich allerdings eine Schwäche des Buches an: sein (film-) historisches Desinteresse. Zag fragt nicht nach der Entstehung der erzählerischen Veränderungen, die er ausmacht, nicht nach ihren Ursprüngen, ihren Referenzen, ihren Reimen. Dass Arbeiter Charlie schon 1936 in Moderne Zeiten mit einem unmenschlichen System kämpft? Dass die Fahrraddiebe schon 1948 hilflos trotz der und gegen die Regeln sind? Dass Marshal Kane schon 1952 um Zwölf Uhr Mittags beinah am fehlenden Verständnis der Zusammenhänge scheitert? Dass doch 1967 The Graduate viel mehr nach einer gesellschaftlichen statt einer individuellen Wandlung schreit?

Die Liste ließe sich fortsetzen – nicht um Zags Ergebnisse zu entkräften, denn es ist höchst wahrscheinlich, dass sich die Resignation einer Gesellschaft auch in ihren Erzählungen zeigt, und es ist plausibel, dass sie das so tut, wie es Zag darstellt, sondern um vielleicht seine Neugier zu wecken. Die Beispiele mögen sogar unscharf sein, anders als Zag schreibe ich hier eine Rezension und kein Fachbuch, doch auch Zags Beispiele verändern nur einige Aspekte und nicht unsere Vorstellung vom Erzählen insgesamt. Der Punkt ist: Bisherige und künftige Veränderungen des Erzählens begründen sich nicht nur in ihren zeitgenössischen Bedingungen sondern auch in den vorangegangenen Veränderungen und Erzählungen. Zags Buch und die untersuchten Filme sind eine Erweiterung unserer erzählerischen Landkarte, Zag und die betreffenden Erzählerinnen sind jedoch nicht die einzigen Pioniere, ihre Pfade nicht gänzlich unbeschritten und ihre Ausgangspunkte immer das Bekannte.

Die Missachtung vergangener Experimente steht bei Zag leider auch all zu oft neben Verachtung für das Altbekannte. Wiederholt wischt er zu grob Vorstellungen, Modelle, Techniken eines Erzählens vom Tisch, das er als klassisch bezeichnet, aber damit bloß das Erzählen des zwanzigsten Jahrhunderts (i. e. Filmdrama und Heldenreise) meint. Es fällt schwer, die beiden Tabellen, in denen er zusammenfassend »Klassische Regeln«, »Regeln fürs 21. Jahrhundert« und die »Dramaturgie der Systeme« gegenüberstellt, nicht als Frechheit zu begreifen. Schlechte Interpretationen (es müssen nicht Zags eigene sein, vielleicht zitiert er Missverständnisse, denen er in seiner Arbeit mit Autorinnen, Redakteurinnen und anderen Filmemacherinnen begegnet) der herkömmlichen Ideen des dramatischen Erzählens werden dabei vieldeutigen Versprechungen über eine neue erzählerische Freiheit gegenübergestellt. So fällt es natürlich leicht, sich vom alten ab- und Zags Theorie zuzuwenden.
Es braucht die Rückbesinnung auf die eigene Zugehörigkeit.
Anders als Zag es über die (individuelle und kollektive) Charakterentwicklung formuliert, schafft das Zertrümmern von Altem aber eben nicht die Voraussetzung für das Neue. Mit diesem futuristischen Gedanken (den Begriff verwende ich mit Verweis auf die Kunst, um nicht faschistisch schreiben zu müssen) scheint mir Zag einer Pervertierung kapitalistischer Ideologie auf den Leim zu gehen (Stichwort Disruption), deren Erzählung, die Heldenreise, er gerade noch problematisierte. Vielmehr braucht es, auch das schreibt Zag dann richtig an anderer Stelle, eine Rückbesinnung auf die eigene Zugehörigkeit. Ich möchte rufen: Lieber Roland, besinne dich, du gehörst auch zu uns und zu dieser klassischen Dramaturgie, die du so schmähst. Wenige schaffen nie, was wir alle in zweitausend-(plus)-jähriger Geschichte geschafft und geschaffen haben.

Mit der filmhistorischen und historischen Vergangenheit vermisse ich auch Zags persönliche. Während er Leserinnen und Leser bereitwillig an seinen Ergebnissen teilhaben lässt, bleiben die Wege dorthin oft unverständlich. Immer dann, wenn Zag beispielsweise eine bestimmte Wirkung auf das Publikum behauptet, muss sein Publikum ihm vertrauen. Ich glaube ihm gern, keine Frage, aber ich glaube eben auch nur. Wenn Zag schreibt »Wir haben gesehen«, dann stimmt das nur zu einem sehr kleinen Teil: Er hat gesehen. Um im Bild der Pioniere zu bleiben: Die Erzählung von einem Eldorado im tiefen Dschungel ohne Wegbeschreibung hilft dann doch nur wenig. Es fehlt auch hier die Zugehörigkeit: Eine Einbettung des Neuen in das, worauf sich Zag bezieht. Die allgemeine Literaturliste im Anhang schafft das nicht.

Das Ergebnis ist ein Rezensent mit gemischten Gefühlen. Der konzentrierte Blick auf das Zwischenmenschliche innerhalb und außerhalb der Erzählung ist ein großer Verdienst. Wenn im neuen Erzählen von Kollektiven künftig die Perspektive gewechselt wird, zu »Meanwhile back at the ranch…«, dann kennen wir jetzt ihre Funktion und ihr dramatisches Potenzial: Das Zuhause als Hort der Zugehörigkeit(en). Für Zags Sensibilität für ein verändertes Filmpublikum, das veränderte Filme braucht, seine Konsequenz, dann auch nach Lösungen zu suchen, und seinen Mut, mit seinen Ergebnisse auch jene zu stören, die gerne weiterarbeiten würden wie gehabt, gebührt ihm Anerkennung. Es mag sogar sein, dass die grobe (und grob fahrlässige) Zurückweisung alter dramaturgischer Ideen in dem eifrigen Versuch geschah, Leserinnen und Leser für die anstehenden Veränderungen zu motivieren.
Es fehlt die Vermittlung einer gemeinsamen, ineinandergreifenden Bedeutung.
Allein, es fehlen die Zusammenhänge, die Zugehörigkeiten. Zag stellt untersuchte erzählerische Aspekte wie seine titelgebenden Dimensionen nebeneinander, statt sie zu verbinden. Es fehlt, was Zag selbst als Kern des Geschichtenerzählens beschreibt und Story Bias nennt: die Vermittlung einer gemeinsamen, ineinandergreifenden Bedeutung. Das gilt sowohl für die erste »klassischere« Hälfte, wie für die zweite »innovativere« Hälfte des Buches. Es scheint fast, der »Dramaturgie der Systeme« fehle das System. Das verhindert wichtige Fragen, wie der nach dem möglichen Widerspruch zwischen diesem Story Bias, also der Erzählung als Darstellung von (kausalen) Zusammenhängen, und der Forderung nach einer Unübersichtlichkeit der (kausalen) Zusammenhänge im neuen Erzählen. Werden wir Geschichten noch als Geschichten begreifen, wenn wir die gegenseitigen Wirksamkeiten der Handlung nicht mehr verstehen?

Dass ich jetzt solche Fragen habe, (auch) dafür vielen Dank. Dimensionen filmischen Erzählens ist mindestens anregend für Dramaturginnen und Dramaturgen, ja geradezu provokant, sollten es sich einige Kolleginnen und Kollegen tatsächlich in den gehabten Erzählmodellen zu bequem gemacht haben. Autorinnen und Autoren möchte ich zumindest die erste Hälfte des Buches empfehlen und ihnen bei der zweiten Hälfte zur Vorsicht raten: Das Erzählen birgt an allen Ecken und Enden genug Unsicherheiten, da mag Zags vorschnelles Zertrümmern des Bekannten bei manchmal dürftigen Wegbeschreibungen ins Unbekannte vielleicht wenig hilfreich sein.

Roland Zag: Dimensionen filmischen Erzählens. Drehbuchschreiben für Film und Serie mit dem ‚human factor‛. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2018. 332 Seiten, 28 Euro. Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Zag befasst sich in Dimensionen filmischen Erzählens mit Themen und Gedanken, die auch mich in diesem Blog schon beschäftigt haben. Fragen sozialer Zugehörigkeit habe ich beispielsweise in »Radikalisierung und Integration« besprochen, die Hilflosigkeit gegenüber einem antagonistischen System in »Fliehen und hoffen: Von Taten und ihren Opfern«, und das Erzählen von Kollektiven jüngst in »Abschied vom Drama: Gesellschaft erzählen«.

1 Gedanke zu „Roland Zags Dimensionen filmischen Erzählens“

  1. Ich habe Zags Buch nicht gelesen, habe jetzt aber eine Vorstellung, worum es geht.
    Mir scheint es verdienstvoll zu sein, dafür zu plädieren, dass man sich von der doch stark durch Ideologie geprägte amerikanischen Filmdramaturgie absetzt. Und, meine persönliche Meinung, sich doch mal wieder besinnt auf europäischen Traditionen. In denen, behaupte ich, durchaus das Soziale und die Systeme enthalten sind. Nur ein paar Beispiele. Was ist zum Beispiel mit einem Autor wir Tschechow? Gibt es in seinen Stücken noch Hauptfiguren? (DREI SCHWESTERN, DER KIRSCHGARTEN) Konventionell haben die meisten Shakespeare-Stücke im Titel die Namen der Protagonisten, der Helden-Individuen. Als aber in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Regisseure dazu übergingen, die Königsdramen (linear und seriell?) zusammenzufassen, hießen die Titel plötzlich DER KRIEG DER ROSEN (Palitzsch) und SCHLACHTEN (Perceval). Überhaupt ist unsere Zeit geprägt durch fatale Geschichtsvergessenheit. Plötzlich reden alle vom linearen Erzählen, was Amerika erfunden haben soll. Sorry, da muss ich lachen. Ich bin bald 75 und möchte nur mal darauf aufmerksam machen, dass wir das in den 70er- Jahren im Vorabendprogramm gemacht haben. Und was hat Edgar Reitz mit seinen HEIMAT-Folgen gemacht? In einem Radiogespräch hat die nun auch nicht mehr junge Schauspielerin Gisela Schneeberger ziemlich empört darauf aufmerksam gemacht. Ihre Frage: was und wie hat Helmut Dietl in seinen Serien erzählt?

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