Abschied vom Drama: Gesellschaft erzählen

Die nächste Heldenreise fällt uns Erzählerinnen und Erzählern schwer. Schon bei FilmStoffEntwicklung 2016 suchte Alfred Behrens nach einer »Widerstand der Ästhetik« durch eine »Ästhetik des Widerstands«, die statt Individuen Kollektive erzählt. Roland Zag kritisierte bei FilmStoffEntwicklung 2018, in einer Welt, die von Ohnmachtsgefühlen und tatsächlicher individueller Ohnmacht bestimmt werde, sei der sich selbst befähigende Held anachronistisch. Ich selbst bezeichnete die Heldenreise und ihr Verständnis von Fähigkeit, Verantwortung und Schuld in meiner Diskussion von Opfererzählungen als zynisch.

In allen drei Beispielen ist ein Ansatz zur Lösung des gemeinsamen und jeweiligen Problems das Erzählen von Kollektiven, von Systemen, von Gesellschaft. Behrens versucht es 2016 mit einer Geschichte, deren Gegenstand nicht das Handeln des Protagonisten ist, sondern sein Blick auf seine Nachbarn. Zag will protagonistische Netzwerke, die erst durch diesen Zusammenschluss gegen antagonistische Netzwerke bestehen. Und auch für die Opfererzählung braucht es ein antagonistisches System, in dem auch ein individueller Sieg wirkungslos bliebe.

Solche erzählerischen Entscheidungen bedeuten nicht nur einen Abschied von der Heldenreise, sondern gleich einen Abschied vom Drama. Denn das Drama funktioniert über die Identifikation des Publikums mit seiner Hauptfigur: Das Publikum übernimmt die Perspektive der Hauptfigur mit ihren („Seh-“) Stärken und („Seh-“) Schwächen und den Erfahrungen, in denen diese Perspektive begründet ist. Auf die selbe Weise, wie die Hauptfigur auf ihrem Weg zum Ziel scheitert, scheitert auch das Publikum; auf die selbe Weise, wie diese Verletzung die Hauptfigur für eine Erkenntnis öffnet, öffnet sie auch das Publikum. David Mamet hat das 2013 in seinem Essay Truth and Melodrama and Phil Spector schön beschrieben.

Im (guten) Drama weicht das Publikum nicht von der Seite der Hauptfigur. Jeder Perspektivwechsel würde die Identifikation stören, ja unmöglich machen: Jeder Eindruck, den das Publikum durch den Perspektivwechsel erfährt, ist ein Eindruck, der der Hauptfigur fehlt. Die zuvor noch gemeinsamen Erfahrungen, die zu einer gemeinsamen Wahrnehmung führten, sind nun voneinander getrennt und führen zu unterschiedlichen Wahrnehmungen. Unterschiedliche Wahrnehmungen wiederum führen zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Die gemeinsame überwältigende Einsicht von Publikum und Hauptfigur in die Antwort auf die dramatische Frage, wie sie Mamet beschreibt, findet durch den Perspektivwechsel nicht statt.
Die dramatische Qualität wird durch eine epische ersetzt.
In dieser Überwältigung aber liegt die Katharsis und damit die dramatische Qualität der Erzählung. Dem Erzählen von Kollektiven, dem multiprotagonistischen Erzählen, das notwendig (aber nicht notgedrungen, sondern zum eigenen Vorteil) Perspektivwechsel vornimmt, fehlt diese Qualität. Dennoch fehlt ihm natürlich nicht Qualität: Ensemblefilme (zum Beispiel) sind genauso erfolgreich wie Heldenreisen und andere Dramen. Statt eines Erkenntnisgewinns des Publikums mit der Figur und durch die Figur findet er durch den Vergleich der Figuren und ihrer Erkenntnisse durch das Publikum statt. Keine der erzählten Figur wird diese Erkenntnis teilen können, sie entsteht erst durch ihren Vergleich. Die dramatische Qualität wird durch eine epische ersetzt.

Ich nehme den Begriff »episch« hier aus dem epischen Theater von Bertolt Brecht, der im Kleinen Organon für das Theater beispielsweise ein Gegenexperiment zu jeder Geschichte fordert, die dann nur ein Beispiel unter mehreren ist. Auch wenn er davon schreibt, die Geschehnisse müssten »so verknüpft sein, daß die Knoten auffällig werden«, so, dass das Publikum »mit dem Urteil dazwischenkommen« könne, verstehe ich hier das Gegenüberstellen multipler Geschichten, oft multipler Protagonisten, deren Erkenntnisse und Konsequenzen daraus dem Publikum zum Vergleich und zur Kritik, zum »Wundern« angeboten werden.

Linda Aronson beschreibt in ihrem Buch The 21st Century Screenplay dramaturgische Modelle, die sie Parallelerzählungen nennt: Erzählungen mit multiplen Protagonisten und/oder multiplen Zeitebenen. Denn auch dieselbe Hauptfigur, die aus einer Gegenwart heraus auf sich selbst in der Vergangenheit blickt ist eine andere Figur als die, die sie war, mit anderen Erfahrungen und einer anderen Wahrnehmung. Sie erwähnt weder Brecht noch den Begriff Epos, aber in ihrer Beschreibung der Funktionen der jeweils identifizierten Modelle findet sich vieles, was im Sinne der gerade beschriebenen epischen Qualität verstanden werden kann.
Für den Vergleich braucht es ein gemeinsames emotionales Thema.
Die Parallelerzählungen, die Aronson identifiziert sind folgende: Das Tandem Narrative Modell, bei dem unterschiedliche Figuren zeitgleich voneinander unabhängig unterschiedliche Erfahrungen zum selben Thema oder Problem machen (Nashville, Magnolia, Pan‘s Labyrinth). Das Multiple Protagonist Narrative Modell, bei dem eine Gruppe gemeinsame Erfahrungen macht (Ganz oder gar nicht, Little Miss Sunshine, American Beauty). Das Double Journeys Narrative Modell, eine Variante des Multiple Protagonist Narrative, bei der zwei Figuren sich gemeinsam durch die Geschichte bewegen, manchmal aufeinander zu oder voneinander weg (Brokeback Mountain, Findet Nemo, The Departed). Das Flashback Narrative Modell, bei der ein Protagonist in der Gegenwart auf einen Protagonisten in der Vergangenheit blickt, der entweder er selbst ist (Forrest Gump, Slumdog Millionaire) oder ein Fremder (Citizen Kane, Die üblichen Verdächtigen). Das Consecutive Stories Narrative Modell, bei dem unterschiedliche Figuren und Geschichten episodisch erzählt werden und der Reiz in ihrer Verbindung liegt (Pulp Fiction, City of God, Lola rennt). Und schließlich das Fractured Tandem Narrative Modell, bei dem die Geschichten des Tandem Modells nonlinear in sich selbst und miteinander verschränkt werden (21 Gramm, L. A. Crash, Babel).

Damit der Vergleich der unterschiedlichen Protagonisten und ihrer Geschichten möglich ist, braucht es ein gemeinsames Thema, präziser: das, was Ron ein emotionales Thema nennt. Zu dem Sachthema einer Geschichte (Ron bezeichnet es als das kognitive Thema), beispielsweise Widerstand gegen den Nationalsozialismus, gibt es viele mögliche emotionale Themen, die im Drama der Protagonist, in der epischen Erzählung die Protagonisten bearbeiten, beispielsweise der Umgang mit Verrat (Casablanca). Aronson nennt andere Möglichkeiten, die Geschichten zu verbinden, aber ich vermute, dass ein gemeinsames emotionales Thema gegeben sein muss. Nur wenn sich die Figuren mit demselben Komplex auseinandersetzen müssen, können wir aus ihren verschiedenen Arten und Weisen das zu tun etwas lernen.

So hat beispielsweise Phil Parker, der Erfinder der »Kreativen Matrix«, in einem Seminar (vermutlich mehreren) mal bemerkt, dass zwar viele Menschen von Babel sehr fasziniert schienen, aber niemand berührt war. Im Drama braucht es diese Berührung, damit sich Figur wie Publikum für die Erkenntnis öffnet. Im epischen Erzählen kann das genauso sein. Parker führte das auf ein fehlendes gemeinsames Thema zurück. Er beschreibt acht Themen, die quasi Rons emotionale Themen zusammenfassen. Ich werde sie hier nur listen und sie dann ggf. in späteren Artikeln ausführen: The Desire for Justice, The Pursuit of Love, The Morality of Individuals, A Desire for Order, The Pursuit of Pleasure, A Fear of Death, Fear of the Unknown/Unkowable, The Desire for Validation.
Das »Feld« wird »in seiner historischen Relativität gekennzeichnet«.
Wir kennen solches episches Erzählen sehr beispielhaft aus Fernsehserien. In vielen Scrubs-Episoden etwa gibt es ein gemeinsames emotionales Thema, dem einige der Protagonistinnen und Protagonisten zu Beginn der Folge in unterschiedlichen Problemen begegnen, und das sie dann für die verbleibende Folge bearbeiten. Mit der Voice-Over-Stimme von J.D. wird der Vergleich und die Kritik der verschiedenen Geschichten dann noch oft schon innerhalb der Folge für das Publikum vorgenommen. Die Folge Meine Lieblingspatientin ist da beispielhaft: Die drei jungen Ärzte werden zum ersten Mal in ihrer noch kurzen Karriere mit dem bevorstehenden Tod ihrer Patientinnen und Patienten konfrontiert. Sie reagieren unterschiedlich unfähig darauf, zum Schluss braucht es von allen dreien die Akzeptanz, dass der Tod, auch wenn man Arzt ist, zum Leben gehört. Der Autor der Folge wurde mit dem Humanitas-Preis ausgezeichnet.

Eine ähnliche Funktion wie J.D.s Voice-Over-Stimme übernimmt in der Flashbackerzählung der Protagonist der Gegenwart, der im Leben eines Protagonisten der Vergangenheit recherchiert. Das »Feld« wird »in seiner historischen Relativität gekennzeichnet«, ganz, wie es Brecht fordert. Das gelingt beispielsweise Gundermann ganz hervorragend: Durch Gundermanns verwunderten, kritischen Blick auf sein vergangenes Selbst, das ihm fremd geworden ist. Das gemeinsame emotionale Thema aller Bruchstücke, die wir aus seinem Leben erhalten ist Verrat. Mal ist Gundermann der Verratene, mal ist er selbst ein Verräter. Sehr begeistert und mit vielen Verweisen auf das, was ich auch hier bespreche, habe ich den Film hier in meinem ersten Eindruck diskutiert.

Das hier beschriebene epische Erzählen, die von Aronson beschriebenen Parallelerzählungen, können eine Lösung sein für den Abschied vom Drama, für ein Erzählen von Kollektiven und einem Erzählen von Gesellschaft, können ein Widerstand der Ästhetik sein, gegen die anmaßende Behauptung der Heldenreise, ein Mensch könne heute alleine (gesellschaftliche) Probleme bewältigen, Ziele erreichen und den American Dream verwirklichen. Brecht fordert, Erzählungen müssten zeigen, dass die Verhältnisse sich ändern lassen, damit das Publikum versteht, dass es selbst eingreifen kann. Ja, das sollten sie durchaus, aber sie müssen dabei sehr genau sein, wer Verhältnisse noch ändern kann (viele), und wer nicht (einzelne).

Ein Kommentar

  1. Michael Füting

    Super-Artikel. Ich war immer der Meinung, dass es für diese aktuelle These einige und auch schon frühere Beispiele gibt. In der Kunst gibt es so gut wie nie etwas total Neues!

    10. Dezember 2018

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