FSE18: Dramaturgie der Systeme

Dramaturg Roland Zag stellt im Vortrag »Dramaturgie der Systeme. Eine Drehbuchlehre fürs 21. Jahrhundert?« bei der diesjährigen VeDRA-Tagung FilmStoffEntwicklung in Vorbereitung der Präsentation seines Buches »Dimensionen filmischen Erzählens« am 29. November in Berlin Überlegungen zu einer epischen Dramaturgie an, die im Gegensatz zur Heldenreise die Unübersichtlichkeit der modernen Welt darstellt, die Machtlosigkeit des Einzelnen, die deshalb notwendige Vernetzung untereinander, und statt eines individuellen Antagonisten ein antagonistisches System.

Zu Beginn erklärt er die Notwendigkeit dieser Überlegungen: Dramaturginnen spielten im Prozess einer spezifischen Filmproduktion zwar nur eine geringe Rolle, hätten mit ihren Erzähltheorien und dramaturgischen Modellen aber einen großen Einfluss auf das Erzählen im Film. Dramaturginnen seien die Gralshüter des Erzählens, sagt Zag, und damit gehe auch die Verantwortung einher, die Lehren zu aktualisieren und relevant zu halten für das, was Autorinnen erzählen wollen, und das, was dem Publikum erzählt werden muss. »Es gibt mehr als die dramaturgischen Weisheiten träumen lassen«, sagt Zag, und wenn es neue Geschichten gäbe, seien wir Dramaturginnen in der Pflicht, eine Theorie zu finden, warum das funktioniert.

Zag erklärt: Das klassische Erzählen mit aktiver Hauptfigur, personalisiertem Gegenspieler, individueller Wandlung, Selbstbefähigung, und Übersichtlichkeit, die Heldenreise an sich, und die Vorstellung, »wenn ich nur alle Hemmungen fallen lasse, steht mir alles offen«, funktioniere nicht mehr in einem 21. Jahrhundert, das geprägt ist von Vernetzung, der rasanten Zunahme von kommunikativen Möglichkeiten, einer Zunahme von Ohnmachtsgefühlen, Komplexität und Unübersichtlichkeit und der großen Bedeutung des Regelwerks.

Am Beispiel der Filme Ich, Daniel Blake, Dunkirk und Alles steht Kopf verdeutlicht Zag: Es braucht heute mehr als einen Protagonisten, es braucht einen kollektiven Prozess, es braucht eine Wandlung nicht des Einzelnen, sondern eine Wandlung der sozialen Verhältnisse, es braucht erzählte Unübersichtlichkeit und ein antagonistisches System, das nicht durch den Sieg über Individuen bezwungen werden kann, denn die spielten nur Rollen. Auf Nachfrage verdeutlicht Zag das: Während beispielsweise faschistische Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts sich noch durch den Tod des Autokraten an seiner Spitze zerstören und zumindest erschüttern ließe, wie es die verschiedenen Hitler-Attentäter versucht haben, gelte das für moderne Funktionsträger, die für ihre Rolle nicht mehr zur Verfügung stehen, etwa in der Wirtschaft, nicht mehr: Die würden einfach ersetzt und das System funktioniere ungestört weiter.

Das widerspricht beispielsweise Brecht, der für sein episches Theater ja auch mehr als einen Protagonisten verlangt, dort auch ein Kollektiv und auch die Gesellschaft erzählen will, und dessen Konflikt die Auseinandersetzung mit dem antagonistischen gesellschaftlichen System ist. Brecht drängt darauf gerade zu erzählen, dass das Individuum die Systeme verändern könne, um das Publikum nicht in dem Glauben zu verabschieden, dass diese Systeme nicht zu ändern sei. Aber er tut das unter anderen Voraussetzungen, anderen Systemen, wie von Zag dargestellt, und als Antwort auf andere Erzählungen, nämlich auf Tragödien, die das Scheitern der Figur im und am System erzählten – Geschichten, die wir heute nicht mehr kennen. Stattdessen haben wir die Heldenreisen, die falsche Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit behaupten. Tragödien, wie die von Brecht kritisierten, würden heute vielleicht keine kollektive Resignation bewirken, wie es Brecht befürchtet, sondern energischen Widerspruch.

»Dramaturgie der Systeme. Eine Drehbuchlehre fürs 21. Jahrhundert?« FilmStoffEntwicklung 2018, Foto: Andre Wunstorf
FilmStoffEntwicklung 2018, Foto: Andre Wunstorf

Für das epische Erzählen möchte ich Linda Aronsons Parallelerzählungen ins Spiel bringen, die sie in ihrem Buch mit dem zu Zags Anliegen passenden Titel The 21st Century Screenplay beschreibt: Mehrere Dramen innerhalb einer Erzählung, entweder durch multiple Protagonisten oder durch multiple Zeitebenen, Flashbackerzählungen. Statt einer Identifikation des Publikums mit der Figur wie im Drama entstehen hier die Erkenntnisse aus dem Vergleich der verschiedenen Figuren und ihrer Handlungen, oder der selben Figur und ihrer Handlungen zu verschiedenen Zeitpunkten in ihrem Leben. Das ist dann im Sinne Brechts: »Die Geschehnisse dürfen sich nicht unmerklich folgen, sondern man muss mit dem Urteil dazwischen kommen können« (Kleines Organon für das Theater).

Die Wandlung nicht in der Figur, sondern in den sozialen Verhältnissen, erinnert mich an das Genre des Western: Der Fremde kommt, der Fremde hilft, der Fremde geht. Oder, pessimistischer, wie im Spätwestern 12 Uhr Mittags: Der Sheriff bleibt, das Dorf hilft nicht, der Sheriff geht als Fremder. Vom Western über den Italowestern, nämlich Für eine Handvoll Dollar, erinnert das außerdem an Gesellschaftssatiren des zwanzigsten Jahrhunderts, Mark Twains The Man That Corrupted Hadleyburg, Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame, oder Dashiell Hammetts Rote Ernte.

Die Machtlosigkeit wiederum erinnert an das Genre des Thrillers, in dem der Protagonist in der ständigen erzwungenen Reaktion auf die Bedrohung durch den Antagonisten seines Protagonismus beraubt ist, bis er sich im zweiten Wendepunkt zum Protagonisten befähigt. Dramaturg Tom Schlesinger sagt dazu: Im Thriller ist der Antagonist der Protagonist. Nur, dass es, wie Roland Zag es bei seinem Vortrag vorstellt, eben keine solche Selbstbefähigung geben darf, denn die beinhaltet noch die Heldenreisen-Botschaft eines aktiven und wirksamen Protagonisten in einer wieder übersichtlich gemachten Welt. (Zag spricht von Ermächtigung, statt Befähigung, einer gern genutzten Übersetzung des englischen Empowerment, bei deren Verwendung ich angesichts der historischen Konnotation aber mehr Vorsicht empfehlen möchte.) Ein Hinweis auf die notwendige Veränderung dieses Thrillers sind vielleicht Romane und Verfilmungen von John le Carré oder Tom Tykwers The International: Hier zieht der Film gerade aus der von Zag beschriebenen Sinnlosigkeit des individuellen Sieges angesichts der großen unüberwindlichen Systeme seine Erkenntnis für das Publikum.

Ohne diesen Moment der Ermächtigung sind wir möglicherweise im Opferfilm, wie ich ihn Anfang des Jahres in der Zeitschrift Wendepunkt und später hier bei filmschreiben beschrieben habe: Der Antagonist bleibt dann Protagonist, es findet keine Selbstbefähigung des eigentlichen Protagonisten im zweiten Wendepunkt statt, sondern stattdessen macht sich das kriminologische Opfer zum religiösen Opfer und rettet dank göttlicher (deus ex machina) Gerechtigkeit zwar nicht sich, aber das, was es am meisten liebt: Children of Men, Das Leben ist Schön, Titanic. Es ist das dritte Mal an diesem Tag der Dramaturgie, das ich mich daran erinnert fühle, zuvor ist das bei den Veranstaltungen »Kino als moralische Anstalt« und »Krieg für Kinder erzählen« geschehen. Vielleicht drängt sich hier ein allgemeines Umdenken im Erzählen gerade auf. Diese Opfererzählungen, wie ich sie beschrieben habe, mit ihrem hilflosen Rückzug in ein Vertrauen auf eine göttliche oder universelle Gerechtigkeit, eine göttliche oder universelle Ordnung, widerstehen dadurch vielleicht aber auch Zags Forderung nach einer Unübersichtlichkeit.

Ich stimme Roland Zag zu: wir haben als Dramaturginnen und Dramaturgen die Aufgabe alternative Erzählungen anzubieten. Und es ist höchste Zeit, dass wir das tun. Ich nenne die Hinweise auf Brecht, die Parallelerzählungen bei Linda Aronson, Western, Gesellschaftssatiren, Thriller und Opfererzählungen, um zu zeigen: Wir stehen dafür nicht ohne leere Hände da; wir haben die Ansätze eine Drehbuchlehre für das 21. Jahrhundert zu begreifen. Alternativen zur Heldenreise und ihrer Behauptung, das Individuum könne selbst über sein Glück oder Unglück entscheiden, gibt es, und wir haben auch im zwanzigsten Jahrhundert schon nach ihnen gesucht. Bei der letzten FilmStoffEntwicklung 2016 war es Dramaturg Alfred Behrens, der seine Suche und seine Funde vorstellte. Ich kann am 29. November nicht in Berlin sein, aber ich bin hochgespannt auf Zags Ergebnisse.

Leserinnen und Leser, die am Tag der Dramaturgie andere Veranstaltungen besucht oder einen anderen Eindruck von den geschilderten Veranstaltungen bekommen haben, sind herzlich eingeladen eigene kurze oder lange Artikel zu ihren Erlebnissen, Begegnungen und Erfahrungen bei der diesjährigen FilmStoffEntwicklung einzureichen! Einfach per Mail an schreiben@arno.ruhr. Ein Einblick in die Veranstaltungen, die ich nicht besuchen konnte (etwa über Serielles Erzählen im Internet), würde mich freuen.

2 Comments

  1. Michael Füting

    Wie soll das gehen? – Autoren schreiben nach neuen Theorien? Wirklich?
    Werden / wurden nicht alle Theorien gemacht nach den Vorleistungen von Autoren? Waren etwa nicht erst Aischylos, Euripides und Sophokles mit ihren Werken da, aus denen Aristoteles dann seine Poetik generieren konnte?
    Ich sehe schon das Problem, das Roland Zag nennt und bearbeitet: unsere Welt lässt sich kaum noch mit individueller Heldenreise abbilden. Total d’accord.
    Nur sind da nicht erstmal Autoren gefragt, die etwas kreieren, das der Komplexität der Realität standhält? Die sich nicht von Redakteuren, die sich als Dramaturgen aufspielen, zu den üblichen Vereinfachungen zwingen lassen.
    Aber der Zuschauer sollte dem Film noch folgen können. Das ist das Problem. Unsere Arbeit, ich schliesse da alle mit ein, dürfte schwerer werden…

    21. November 2018
  2. So, wie ich Zag verstehe, orientiert er sich an einem Wandel, den er auch im Erzählen schon festgestellt haben will: ICH, DANIEL BLAKE mit dem antagonistischen System; ALLES STEHT KOPF mit einem Protagonisten-Kollektiv; DUNKIRK mit der Unübersichtlichkeit. Ich habe gerade noch einmal nachgeschaut, andere Beispielfilme, die er genannt hat, sind: THE BIG SHORT, LA GRANDE BELLEZZA, THE HATEFUL EIGHT, LINCOLN, SPOTLIGHT, DETROIT, THE SQUARE, WHOAMI, und HOUSE OF CARDS.

    22. November 2018

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