FSE16: Widerstand der Ästhetik

„Ich wollte Urlaub machen an der Adria, Lesen und Schwimmen. Dann kommt der Brexit und schon fängt der Autor wieder an zu Schreiben.“ Prof. Alfred Behrens stellt bei FilmStoffEntwicklung seine Arbeit für eine Politische Dramaturgie vor: »Ästhetik des Widerstands – Widerstand der Ästhetik«. Ich verstehe es als Appell an uns, ihn und uns alle damit nicht allein zu lassen.

Behrens beginnt mit der Entschuldigung, er habe äußerst schlecht geschlafen und noch am Morgen den Vortrag wieder massiv verändert: Die aktuelle Situation in der Türkei, die permanente Gefahr, die dort für jede Autorin, jeden Autor von der Regierung ausgeht, lasse ihm keine Ruhe.

Diese politische und gesellschaftliche Sensibilität betone ich deshalb gleich an zwei Beispielen, weil sie, so schmerzhaft sie sein mag, Erzählern ein Vorbild sein sollte. Erzählungen erreichen, berühren und verändern Menschen, das heißt: Erzählungen sind politisch. Das zu ignorieren, also ignorante Geschichten zu erzählen, macht ignorante Menschen. Es gilt, Verantwortung für die eigene erzählerische Macht wahrzunehmen.
„Wie erzählt man Kollektive?“
Behrens Vortrag ist nicht einfach. Das liegt an ihrer Form, die eher einer Collage gleicht, als einer Vorlesung. Das liegt aber auch an ihrem Anspruch an uns, der unbequem ist. Vielleicht habe ich mit den ersten Absätzen dieses Artikels gerade Leser verloren, bei Behrens sitzt zuletzt nur noch die Hälfte.

Anstoß seines Vortrags, sagt Prof. Behrens, sei eine Frage des ehemaligen VeDRA-Vorsitzenden Roland Zag im Wendepunkt (PDF) Anfang des Jahres gewesen: „Wie erzählt man Kollektive?“ In der Ausgabe, in der zufälligerweise auch ich meinen ersten Artikel veröffentlichen darf und ihn gleich für einen Appell zum Politischen Schreiben nutze, beschreibt Zag eine veränderte Gesellschaft und die daraus folgende Notwendigkeit eines veränderten Erzählens.

Nicht mehr nur der Mensch, sondern vor allem das System ist ein Abgrund, voll scheußlicher und auch grandioser Aspekte. In einer solchen Zeit wirkt das Bild des Einzelnen, der sich durch Krisen und schwere Kämpfe gegen böse Antagonisten durchsetzt und zu seiner wahren Größe erwächst, anachronistisch.
Roland Zag: Heldenreise am Ende. Über die Krise eines filmischen Paradigmas und mögliche Konsequenzen.

Hier setzt Behrens an: Erzähler sollten eben nicht nur vom Markt, sondern auch von anderen gesellschaftlichen Kräften abhängig sein. Eigentlich, so verstehe ich ihn, sind sie es längst, sie müssen nur reagieren, zusammen mit einer ganzen Branche. Es ist auch ein Appell, an den notwendigen Veränderungen teilzunehmen.

Behrens sieht darin nur Chancen: Das Fernsehen habe endlich die Möglichkeit, sich aus Stillstand und der daraus folgenden Marginalisierung zu befreien. Allerdings müssten wir Erzähler dafür ein Wort mitreden bei den künftigen Schritten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die Digitalität, dürfen sie nicht Politikern, Intendanten, Journalisten überlassen. Da niemand uns fragen wird, müssen wir von uns aus das Wort ergreifen.

FSE16, Ästhetik des Widerstands, Prof. Alfred Behrens
Photo: André Wunstorf. VeDRA, FilmStoffEntwicklung 2016.

In diesem Umbruch kämen die neuen digitalen Werkzeuge gerade recht: Der Filmemacher könne filmen, wie der Autor schreiben, der Künstler malen kann. Behrens stellt Projekte vor, darunter Die Brille des Erzählers und Der Schatten des Körpers des Kameramanns, die er mit kleinen, stets verfügbaren Kameras drehte, „malte“, schrieb.

Unsere Arbeit als Autoren also verändert sich, weil sich Gesellschaft verändert. Und wir Autoren nehmen darauf Einfluss, und sollten uns dessen bewusst sein. Unsere Arbeit verändert sich sowohl inhaltlich als auch formal. Deswegen braucht es eine Politische Dramaturgie, deswegen braucht es ein neues Filmen (hey: Filmschreiben.).

Doch, diese Veränderungen müssen wir nicht nur für uns wahrnehmen sondern sie auch jenen vermitteln, die von unserer Arbeit abhängig sind, von denen wir mit unserer Arbeit abhängig sind. Behrens zitiert Peter Weiss:

Zwei Wege sind gangbar / zur Vorbereitung / grundlegender Veränderung / Der eine Weg ist / die Analyse der konkreten / historischen Situation / Der andre Weg ist / die visionäre Formung / tiefster persönlicher Erfahrung.
Peter Weiss: Hölderlin.

Was die Politische Dramaturgie angeht, warnt Behrens aber auch vor Einfluss durch Ideologie und Ideologen. Das führt er nicht aus, doch die Bedeutung ist klar: Erzählung darf nicht blind sein. Und aus der Dramaturgie wissen wir, dass Menschen mit Ziel mindestens einen blinden Fleck haben.

Die Frage, wie wir Kollektive, also Gesellschaft erzählen können, empfindet Behrens als Herausforderung. Als einen möglichen Versuch zitiert er aus einem eigenen Text, in dem der sich erinnernde Erzähler als Kind durch seine Straße geht und von jedem Anwohner etwas zu berichten weiß.
Es braucht die Mitgestaltung der Autoren an der Zukunft der Sender.
Es gibt, glaube ich, eine Reihe von Filmen, auf die wir uns bei dieser Frage beziehen und stützen können: Filme mit mehreren Protagonisten und/oder mehreren Zeitebenen, epische Filme. Mehrere Protagonisten provozieren Vergleich und Reflektion, genauso wie der veränderte Protagonist, der über sein eigenes, vergangenes selbst sinnt. Vielleicht ist das aber noch zu kurz, zu einfach. Und einfach sollten wir uns die Beantwortung dieser Frage nicht machen.

Für solche Filme braucht aber eben nicht nur den Autorenwillen, sondern auch den Willen von Produzenten und Redakteuren, solche Experimente zu wagen. Denn während es für die beschriebenen Filme viele allseits bekannte Beispiele aus Großbritannien und den USA gibt, bekommen solche Parallelerzählungen in Deutschland keine Chance. Deswegen braucht es die Mitgestaltung der Autoren an der Zukunft der Sender.

Mein Gefühl sagt: Ich schulde ihm [Behrens‘ Großvater], meinem Vater, meiner Mutter, Miss Black und Peter Weiss – der am 8. November 100 Jahre alt wird – einen Film über den neuen Klassenkampf von oben. Die Elektronische Ausbeutung. Und unseren Widerstand.
Alfred Behrens, Programm von FilmStoffEntwicklung 2016

Ich glaube, Autoren schreiben oft aus dem Gefühl heraus, einem Menschen eine Geschichte zu schulden: Dem Mensch, über den sie erzählen; dem Mensch, dem sie erzählen; dem Mensch, dem beide ein Anliegen sind. Das ist vielleicht schon die Haltung des Politischen Schreibens, wir müssen uns ihr nur bewusst werden.

2 Gedanken zu „FSE16: Widerstand der Ästhetik“

  1. Ich war bei der FSE16 und hätte mich beinahe für diesen Vortrag entschieden, war dann aber bei der Podiumsdiskussion zum Genrefilm. Als dann vor der nächsten Veranstaltungen ein paar Teilnehmerinnen in der Reihe vor mir Behrens‘ Vortrag mit „furchtbar“ und „nicht auszuhalten“ bewerteten, fühlte ich mich durchaus erleichtert. Jetzt bin ich aber doch ganz froh, noch ein anderes Bild davon zu bekommen. Vielen Dank!

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