Too long; didn’t read: Texte aus Drehbuch-, Film- und Welttheorie, kurz, knapp, bündig zusammengefasst und auf ihren Wert fürs filmschreiben hin geprüft. Heute der Essay »Against Interpretation« von Susan Sontag.
In 50 Worten (Was ist das?): Interpretation schändet Kunst, blickt auf den Inhalt eines Werks und ignoriert arrogant die Form, das sinnlich Wahrnehmbare. Durch Interpretation versuchen wir Kunst verständlich und nutzbar – immer verständlicher und nutzbarer – zu machen. Doch statt eines intellektuellen Verständnisses braucht Kunst unsere sensorische Sensibilität, statt einer Hermeutik brauche es eine Erotik der Kunst.
In 140 Zeichen (Was ist das?):
#SusanSontag: Die #Interpretation von #Kunst, der Blick auf #Inhalt statt #Form, hindert uns daran, ein #Kunstwerk wahrzunehmen, wie es ist.— filmschreiben.de (@filmschreiben) 12. Juni 2018
Die Erkenntnis: Durch die inhaltliche Interpretation deuten wir ein Kunstwerk so um, dass wir es verstehen und damit umgehen können: »It makes art into an article for use, for arrangement into a mental scheme of categories.« Ich verstehe Sontag so, als sei das nicht grundsätzlich ein Problem, sondern dann, wenn wir so tun, als sei die Interpretation quasi identisch mit dem Kunstwerk und nicht bloß nicht mehr als ein Schatten davon.
Tatsächlich deutet sich in der Formulierung ja auch ein Vorteil von Interpretationen an: Das Große und Unbegreifbare wird klein und handlich gemacht. Die Schwelle zum Werk, ja die Schwelle zu Kunst grundsätzlich wird gesenkt, ihr Überschreiten wird mehr Menschen möglich, innerhalb dieser Vereinfachung wird der Diskurs demokratischer.
Wir kennen das von allen Themen, die beispielsweise für Kinder aufbereitet und dabei stark vereinfacht werden; als Erwachsene denken wir jedoch gerne, unser Verständnis der Vereinfachung sei schon das Verständnis der Sache (Stichwort Populismus). Tatsächlich hat aber jeder Lernprozess Schritte, und bloß den nächsten Schritt zu ignorieren heißt nicht, dass er nicht da sei. Sontags Sorge scheint genau das zu sein: Dass wir bei aller hilfreichen Interpretation vergessen haben, dass das noch nicht alles ist.
Das erinnert an Hannes Böhringers Das hölzerne Pferd (Theorie tl;dr: Über das Auflösen): Der Mensch löst seine Probleme durch die Konstruktion einer Lösung, doch damit unterwirft er sich dieser Konstruktion. Auch in seiner Konsequenz für die dramaturgische Arbeit: »Zum Guten führt kein Weg, zur Tugend führt nur der Nicht-Weg.« Dramaturgie ist inhaltliche Arbeit, quasi umgekehrte Interpretation; Kunst beginnt erst dort, wo sie aufhört.
Das Zitat:
Like the fumes of the automobile and of heavy industry which befoul the urban atmosphere, the effusion of interpretations of art today poisons our sensibilities. In a culture whose already classical dilemma is the hypertrophy of the intellect at the expanse of energy and sensual capability, interpretation is the revenge of the intellect upon art. Even more. It is the revenge of the intellect upon the world. To interpret is to impoverish, to deplete the world – in order to set up a shadow world of “meanings.”
Von besonderem Interesse ist vielleicht, dass sich diese Erkenntnis wie bei Böhringer auch auf den Tiefpunkt einer Erzählung übertragen lässt. Bis zu diesem Punkt im zweiten Akt nämlich hat der Protagonist versucht sein Problem mit der Stärke zu lösen, die ihm offenbar ist: Seinem Verstand. Im Tiefpunkt ist er damit gescheitert. Um zu triumphieren, muss er sich dem öffnen, was über seinen Verstand hinaus geht. Die notwendige Sensibilität konkretisiert sich oft in einem intimen Moment mit einer emotional nahen Person, so dass das System der Eight Sequences dort eine Romance Sequence with Inspiration verortet – was uns damit wieder zu Sontags Begriff der Erotik führt.
Das letzte Wort:
In most modern instances, interpretation amounts to the philistine refusal to leave the work of art alone. Real art has the capacity to make us nervous. By reducing the work of art to its content and then interpreting that, one tames the work of art.
Susan Sontag: Against Interpretation. Herausgegeben 1966 in einer gleichnamigen Essaysammlung; ob dieser Essay beispielsweise in einer Zeitschrift eher erschienen ist, habe ich nicht herausgefunden. Ein PDF, das als Jahr der Veröffentlichung 1964 angibt, findet sich auf den Seiten des Shifter Magazine.
Dieser Blog gereicht filmschreiben sehr zur Ehre. Einfach nur, um die Kopfigkeit so vieler Beiträge auszugleichen. Alle intellektuellen Aussagen sind wertlos, wenn zuvor nicht etwas wirklich tief über die Sinne gegangen ist. S. Sontag sagt dort nämlich auch:
SEE MORE, HEAR MORE, FEEL MORE!
Oder wie der immer ästhetisch operierende Philosoph Wittgenstein bemerkte:
DENK NICHT, SCHAU!
Was für Provokationen unserer akademisch-stolzen Branche.
Ich finde aber tatsächlich, dass da gar keine Abwertung drinsteckt. Die intellektuelle Bewältigung einer Sache ist eben unsere Art uns das große Unverständlich in kleinen verständlichen Stücken zu servieren. Das gefährliche Problem ist dann der Irrtum, das sei schon alles.