Das Ziel ist Persönlichkeitsstörung

Als Autor in die Haut seiner Figuren zu schlüpfen ist schwer genug. Doch ein Film wird nicht von einem Autor gemacht, sondern von einem Team. Und wenn ein Team versucht in die Haut einer Figur zu schlüpfen, ist die eine Figur plötzlich viele Figuren, hat einige Gemeinsamkeiten und viele Widersprüche. Das Team muss sich verständigen.

Ein Hilfsmittel: Fritz Riemanns Grundformen der Angst und das sogenannte Riemann-Thomann-Modell (Wikipedia). Fritz Riemann (Wikipedia) war ein deutscher Psychoanalytiker. Inwieweit das Modell noch für die moderne Psychoanalyse relevant ist, vermag ich nicht zu sagen, im Teamentwicklungs- und Jobcoaching-Bereich scheint es viel Beachtung zu finden. Es ist schnell und leicht verständlich, kann richtig angewendet (als Angebot, nicht als Regelwerk) hilfreich sein und war mir eine willkommene Inspiration, wie man über Charaktere nachdenken und sich mit anderen verständigen kann.

In diesem Modell gibt es vier Bestrebungen des Menschen, von denen je zwei sich widersprechen: Nähe oder Distanz, Konstanz oder Veränderung. Es gibt also das Streben nach Nähe und Resonanz, verbunden mit der Angst vor Ungeborgenheit und Isolierung. Es gibt das Streben nach Distanz und Autonomie, mit der Angst vor Ich-Verlust und Abhängigkeit. Es gibt das Streben nach Ordnung und Sicherheit, verbunden mit der Angst vor Veränderung und Unsicherheit. Und das Streben nach Freiheit und Bewegung, mit der Angst vor Notwendigkeit und Endgültigkeit.
Es sind Bestrebungen und Ängste, die uns und die Figuren motivieren.
Es sind Bestrebungen und Ängste, die uns und die Figuren, die wir schreiben motivieren. Jedes der genannten Bedürfnisse ist absolut gerechtfertigt. Und der gesunde Mensch verhält sich und handelt entsprechend aller vier, je nach Situation. In der Dramaturgie wird er manchmal als „integrated character“ bezeichnet, als jemand, der in sich selbst ruht. Wir kennen diese Figuren aus Filmen, in denen es nicht um eine mögliche Entwicklung des Protagonisten sondern um eine durch den Protagonisten veranlasste mögliche Entwicklung der Welt geht, zum Beispiel in Western.

Je nachdem welche Erfahrungen wir und unsere Figuren machen und wie wir und sie damit umgegangen sind, sind jedoch ein oder zwei Bedürfnisse meist größer, ein oder zwei Ängste furchteinflößender als die anderen. Die Wahrnehmung der Situation verschiebt sich, eine Bedrohung wird dann vielleicht stärker wahrgenommen, als sie ist, eine andere schwächer. Ein „Fenster“, die Möglichkeit ein Bedürfnis zu befriedigen wird vielleicht ignoriert, um ein nicht existierendes Fenster zur Befriedigung eines anderen Bedürfnisses zu suchen.

Riemanns Persönlichkeitsmodell

Was ich hier beschreibe, ist nichts anderes, als der sogenannte mode der Figur, ihr Modus Operandi. In der Comedy wird von der komischen Perspektive der Figur auf die Welt gesprochen, versteht man komisch als eigenartig oder sogar krank, funktioniert der Begriff grundsätzlich. Denn die weitere Verschiebung der Wahrnehmung, die Radikalisierung der komischen Perspektive ist die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung.

Entsprechend der vier Bestrebungen bezeichnet Riemann denjenigen als depressive Persönlichkeit, der mehr nach Nähe und Resonanz als nach Distanz und Autonomie strebt. Ihr Pendant ist die schizoide Persönlichkeit. Und die Person, die mehr nach Ordnung und Sicherheit als nach Freiheit und Bewegung strebt, bezeichnet er als zwanghafte Persönlichkeit. Ihr Pendant ist die hysterische Persönlichkeit. Diese Bezeichnungen mögen nach sehr bedrohlichen psychischen Störungen klingen, doch so ist das von Riemann nicht gemeint, es ist erst einmal eine harmlose Typenlehre. Erst die Radikalisierung des Typs führt zu den entsprechenden Persönlichkeitsstörungen.
Der Weg zum Ziel radikalisiert die Figur, macht sie krank oder noch kränker.
Das führt und zurück zur Dramaturgie. Die Charakterentwicklung einer Figur ist die Austragung eines inneren Konflikts zwischen ihrem Ziel und ihrem eigentlichen Bedürfnis. Etwas verwirrend: In der Dramaturgie bezeichnen wir nur eines der vier genannten Bedürfnisse als Bedürfnis, nämlich dasjenige, das von der Figur ignoriert wird. Die Figur verfolgt also ein bestimmtes Ziel mit einer bestimmten Motivation um ein bestimmtes Bedürfnis zu erfüllen (das wir nicht Bedürfnis nennen), ignoriert dabei aber immer mehr ein anderes Bedürfnis (das wird Bedürfnis nennen). Der Weg zum Ziel radikalisiert die Figur, macht sie krank oder noch kränker. Manchmal sogar todkrank: In der klassischen Tragödie stirbt der Held durch Erreichen seines Ziels.

Entsprechend des Ziels und Bedürfnisses des Protagonisten lassen sich auch die anderen dramaturgischen Rollen typologisieren. Ist der Antagonist das genaue Gegenteil des Protagonisten, provoziert er die Perspektive des Protagonisten (z.B. der Buddy im Buddy Movie, die Love Interest in der Romantic Comedy), oder ist der Antagonist die radikalere Version des Protagonisten, und der Protagonist ist auf dem Weg, genauso zu werden wie er (z.B. viele Thriller-Antagonisten)? Im ersten Fall wird der Antagonist vielleicht zum Mentor. Ist ein Mentor aber wiederum die radikalere Version des Protagonisten, wird er vielleicht zum Antagonisten (z.B. Batman Begins).

Es gibt viele Listen mit Charaktereigenschaften der jeweiligen Typen. Das mag helfen oder nicht. Wobei mir Riemanns Modell geholfen hat, ist eine Veranschaulichung des inneren Konflikts. Und die Ausstattung mit Vokabeln, um sich mit anderen über diesen Konflikt zu verständigen. Die jeweiligen Bestrebungen und Ängste des Protagonisten können Anhaltspunkt für das Thema des Stoffes sein. Und es hat mindestens mich, vielleicht jetzt auch euch, dazu veranlasst über das aktuelle Verständnis von Persönlichkeitsstörungen recherchieren und nach gegensätzlichen Polen Ausschau zu halten.

Ein Beispiel? Wie wäre es mit einem Thriller bei dem die Achse Geheimnis hieße, die beiden Pole Wahrheit und Lüge. Eine Figur mit einer paranoiden Persönlichkeit, die Lüge, Täuschung fürchtet, und nach Wahrheit, Aufklärung strebt um sich oder etwas, das ihr wichtig ist, zu schützen. Eine Figur mit einer narzisstischen Persönlichkeit, die die Wahrheit, den Verrat fürchtet und nach Lüge, Vertuschung strebt um sich oder etwas, das ihr wichtig ist, zu schützen. Die Berechtigung beider Pole wird verhandelt.

Gibt es mehr Möglichkeiten? Viel mehr. Viel Spaß!

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