Jede Entscheidung, die wir in der Konzeption unseres Stoffs bzw. während des Schreibens treffen, nimmt Einfluss auf den Spannungsaufbau und die Entwicklung des Plots. Einer dieser Faktoren, den wir ständig im Blick haben müssen, ist die Zeit.
Erzählte Zeit vs. Erzählzeit
Die Zeit ist ein Aspekt der Stoffentwicklung, der wie kaum ein anderer dafür verantwortlich ist, ob wir eine Geschichte als spannend empfinden, ob sie uns langweilt oder ob wir mittendrin oder am Ende eine unerwartete Überraschung erleben. Anders als im klassischen Theater, wo eine Handlung im Idealfall nicht mehr als einen Sonnenlauf, also einen Tag überstieg (Aristoteles, Poetik, ca. 335 v. Chr.), besitzen wir in Film und Serie die Freiheit, so über die Zeit zu verfügen, wie wir möchten.
Nur in wenigen Fällen entspricht nämlich die Erzählzeit eines Films oder einer Serie auch der erzählten Zeit. Ein Beispiel aus der jüngeren deutschen Filmgeschichte ist VICTORIA (D 2015, Drehbuch Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz). Der Film besteht aus einer einzigen, 140-minütigen Kameraeinstellung, und wir folgen den Figuren minutiös durch die Handlung. Die erzählte Zeit, die als während der Handlung vergehende Zeit definiert wird, entspricht 1:1 der Erzählzeit, also den 140 Minuten, die der Film dauert.
Die Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ist ein wichtiger Aspekt der Drehbucharbeit – wir haben schließlich nur 45, 90 oder 120 bis 140 Minuten Zeit, eine Geschichte zu erzählen. Und dennoch ist es möglich, in diesem beengten Zeitrahmen eine 12 Jahre umspannende Odyssee (12 YEARS A SLAVE, USA 2013, 2h 14m, Drehbuch John Ridley), ein Leben (FORREST GUMP, USA 1995, 2h 16m, Drehbuch Eric Roth) oder eine ganze Familiensaga (BUDDENBROOKS, D 2008, 2h 58m, Drehbuch Heinrich Breloer, Horst Königstein) zu erzählen.
Das Spielen mit der Zeit ist erlaubt
Über die Entscheidung, welchen Zeitraum wir erzählen möchten, stehen uns aber noch ein paar Tricks zur Verfügung, die wir wahrscheinlich schon aus dem Deutschunterricht kennen, aber längst vergessen haben.
Zeitdeckung: Wenn die erzählte Zeit der Erzählzeit entspricht, haben wir es mit einer Zeitdeckung zu tun. Innerhalb der Geschichte gibt es keine großen Sprünge. Dieses Prinzip findet sich in den meisten Drehbüchern aber nur phasenweise wieder, während zwischen den einzelnen Abschnitten, in denen wir der Handlung minutiös beiwohnen, gesprungen wird.
Zeitraffung: Hier ist die erzählte Zeit länger als die Erzählzeit. Handlungsphasen, die für den Fortgang der Geschichte bzw. des Plots nicht relevant sind bzw. im OFF erzählt werden können, werden einfach ausgelassen – diese Form des elliptischen Erzählens macht es möglich, eine große Handlung in eine Serienepisode, einen TV-Film oder einen Kinofilm zu packen.
Zeitdehnung: Im Gegensatz zur Beschleunigung der Handlung können wir sie auch verlangsamen, z. B. indem wir ein und denselben Handlungsstrang aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen oder die Zeit langsamer verstreichen lassen als sie eigentlich vergehen würde. Der Film 8 BLICKWINKEL (USA 2008, Drehbuch Barry Levy), aber auch die Serie THE AFFAIR (USA 2014-, Idee Sarah Treem, Hagai Levi) bedienen sich dramaturgisch sehr erfolgreich dieses Erzählprinzips.
Die Auswirkung der Zeit auf Handlungs- und Spannungsbogen
Über die Zeit, die wir erzählen, aus wessen Sicht wir sie erzählen und die Art, wie wir sie erzählen, haben wir den Plot und damit auch unseren Zuschauer fest im Griff. Wir können in der Zeit vor- und zurückspringen. Wir können dem Zuschauer Informationen vorenthalten und diese später nachholen, oft mit einem überraschenden Effekt. Wir können durch subjektive Sichtweisen unserer Figuren auf die vergangene Zeit falsche Fährten legen oder den Zuschauer in seiner Sicherheit, auf dem Bildschirm nur eine Wahrheit, aber nicht mehrere vermittelt zu bekommen, aufrütteln. Wir können sein Zeitempfinden manipulieren. Als Drehbuchautoren sind wir die Herren über die Zeit, zumindest für die Dauer unseres Drehbuchs.