Die Heldenreise – Teil 4: Die Archetypen

Archetypen sind nicht nur wesentliche dramaturgische Funktionen der Heldenreise, sondern wichtige Elemente in jeglichen menschlichen Erfahrungsprozessen. Der Psychologe Carl Gustav Jung fasste diese stets wiederkehrenden Figuren, Symbole und Beziehungen unter dem Begriff Archetyp zusammen und sah darin uralte Wesensmerkmale, die das gemeinsame Erbe der gesamten Menschheit bilden.

Die wichtigste Funktion der Archetypen ist, bestimmte Persönlichkeitsanteile des Helden im Außen zu repräsentieren, Anteile, die der Held integrieren muss, um ganz – um zum Helden – zu werden. Über sie wird erzählt, was im Inneren des Helden vor sich geht, welche inneren Konflikte und Unreifen er hat.

Archetypen repräsentieren bestimmte Persönlichkeitsanteile des Helden im Außen.

Folgende Archetypen treten am häufigsten in der Heldenreise auf. Ihre Funktionsweise zu kennen, erleichtert das Verständnis eines Prozesses:

• Held
• Mentor
• Schwellenhüter
• Herold
• Gestaltwandler
• Schatten
• Trickster

Es gibt noch zahlreiche weitere Archetypen, die jedoch lediglich Varianten und Weiterentwicklungen dieser sieben Archetypen sind. Diese sieben bilden die grundlegenden Muster, aus denen sich alle Rollen entsprechend den Bedürfnissen einer Geschichte oder eines Prozesses gestalten lassen.

Archetypen müssen nicht immer Figuren sein. In der Idee des Archetypus geht es darum, die Funktion eines bestimmten Charakters oder Elements innerhalb einer Geschichte zu begreifen. Archetypen sind also in erster Linie als dramaturgische Funktionen zu verstehen, die von einem Charakter angenommen werden können, um die Geschichte voranzubringen. Das bedeutet, dass ein Charakter innerhalb einer Geschichte die Züge mehrerer Archetypen annehmen kann.

Archetypen sind in erster Linie als dramaturgische Funktionen zu verstehen.

DER HELD
Der Held ist die Figur, die zunächst kein Held ist, sondern erst zu einem wird: die Hauptfigur. In der Heldenreise geht es darum, ihre Charakterentwicklung – ihre Heldwerdung – zu erzählen.

Die zentrale Funktion des Helden ist die Entwicklung seines Charakters, über die etwas über das Menschsein, das Leben und die Gesellschaft ausgesagt wird.

Eine weitere wichtige Funktion ist die Identifikation. Der Held muss dem Publikum die Möglichkeit geben, sich mit ihm zu identifizieren und dadurch Empathie zu entwickeln. Dazu muss er mit einer Mischung aus universellen und einzigartigen Wesenszügen ausgestattet werden. Vor allem aber müssen seine tiefe Verletzung und sein Leiden daran klar werden (siehe Teil 2 der Heldenreise). Das Leiden einer Figur an sich selbst ist die beste Möglichkeit, Identifikation des Publikums mit ihr zu erzeugen.

Das Leiden einer Figur an sich selbst ist die beste Möglichkeit, Identifikation des Publikums mit ihr zu erzeugen.

In den meisten Heldenreisen ist der Held die aktivste Figur. Eine weitere Funktion besteht also darin, die Handlung voranzutreiben.

Das griechische Wort für Held – Heros – bedeutet seiner Wurzel nach „schützen und dienen“. Der Held ist also jemand, der einer Sache dient, der bereit ist, seine eigenen Bedürfnisse dem Nutzen der Gemeinschaft oder für ein Ideal zu opfern. Die Bereitschaft zur Selbstaufopferung – für die Gemeinschaft, eine Idee, etwas Höheres etc. – ist in der ursprünglichen Bedeutung der Heldenreise ein Wesensmerkmale des Helden.

Helden können in einer ganzen Reihe von Varianten auftreten: der stets bereite, fest entschlossene Held; der zögerliche, zweifelnde Held; der gemeinschaftsorientierte Held, der mit dem Beginn der Reise seine Gemeinschaft verlassen muss und am Ende wieder zurückkehrt; der einsame Kämpfer, der von außen kommt, am Anfang der Reise in eine Gemeinschaft eintritt und am Ende wieder verschwindet; der Antiheld; der tragische Held; der Katalysator-Held, der eher eine handlungsanregende Funktion hat und eine Veränderung in den anderen Figuren bewirkt.

DER MENTOR
Mentoren bilden den Helden aus, sie schützen und unterstützen ihn und geben ihm eine Gabe, die er im weiteren Verlauf der Reise braucht, um sie zu bestehen (das Leuchtschwert, das Obi Wan Kenobi Luke Skywalker überreicht – vermutlich die berühmteste Gabe der Filmgeschichte).

In der Regel sind sie positiv besetzt (Merlin, der König Artus anleitet; ein altgedienter Polizei-Sergeant, der dem Neuling einen guten Rat gibt). Sie können aber auch negativ sein. Wichtig ist, dass sie ihre Funktion erfüllen: den Helden dazu zu bringen, seine Reise anzutreten. Und das können sie auch, indem sie ihn zwingen, prügeln, erpressen oder ihn in positiver Weise dabei unterstützen, sich auf die Reise zu begeben, um ihn in den sicher geglaubten Tod zu treiben.

Mentoren können auch das Gewissen des Helden darstellen. Sie erinnern ihn an seinen Moralkodex oder an die Aufgabe, die der Held zu meistern hat, sobald er seinen Prinzipien untreu geworden oder auf Abwege geraten ist.

Eine weitere wichtige Funktion des Mentors besteht darin, den Helden zu motivieren und ihm bei der Überwindung seiner Angst beizustehen.

Wie der Held so kann auch der Mentor in verschiedenen Variationen auftreten: der bereite Mentor, der zögerliche Mentor, der Mentor als schlechtes Beispiel, der dunkle Mentor, der den Held absichtlich in Gefahr bringen will.

Im Laufe einer Geschichte kann die Funktion des Mentors von mehreren Figuren ausgefüllt werden.

Ricky ist in AMERICAN BEAUTY Lesters Mentor: Als er spontan seinen Job kündigt, schaut Lester ihn mit offenem Mund an und sagt, dass er gerade zu seinem persönlichen Helden geworden ist. Außerdem gibt Ricky Lester eine Gabe, die Lester braucht, um die Reise zu bestehen: Marihuana.

DER SCHWELLENHÜTER
Schwellenhüter treten auf, wenn der Held einen weiteren Schritt in der neuen Welt machen will. Ihre Funktion ist, ihn zu prüfen, ob er tatsächlich schon so weit ist. Wichtig ist, wie der Held auf einen Schwellenhüter reagiert. Er kann weglaufen, ihn angreifen, übertölpeln, bestechen oder ihn zu seinem Verbündeten machen. Um seine Reise zu bestehen und seine Charakterentwicklung zum Abschluss zu bringen, darf er ihn aber nicht lediglich platt machen, sondern muss seine „Energie“ in sich aufnehmen und seine Kraft nutzen (was auch für die anderen Archetypen gilt).

Der Held muss die “Energie” des SChwellenhüters in sich aufnehmen und dessen Kraft nutzen.

In Games wird oft mit diesem Aspekt gespielt: Wird ein Schwellenhüter umgebracht, kann es sein, dass der Spieler an einer anderen Stelle hängen bleibt, weil der Schwellenhüter etwas für ihn hatte, das er braucht, um an dieser Stelle weiter zu kommen.

Schwellenhüter bieten also immer ein großes Potenzial für die Weiterentwicklung eines Prozesses, und sollten daher nicht als Feinde angesehen werden.

Schwellenhüter repräsentieren aber auch die ganz normalen Hindernisse, denen der sich der Held ständig gegenübersieht: schlechtes Wetter, Vorurteile, feindlich eingestellte Menschen.

In AMERICAN BEAUTY ist beispielsweise Jane Lesters Schwellenhüterin als er versucht, Angela anzurufen, aber von Jane gestört wird, die aus der Dusche kommt.

DER HEROLD
Der Herold ist ein Verkünder. Seine Funktion ist, Herausforderungen und Wandlungen anzukündigen. Er überbringt dem Helden den Ruf zum Abenteuer. Auch der Herold muss nicht unbedingt eine Figur sein. Wie bei den anderen Archetypen ist es wichtig, ihn von seiner Funktion her zu verstehen. Ein heraufziehendes Unwetter kann also genauso ein Herold sein.

Es gibt positive, negative und neutrale Herolde. Er kann ein Abgesandter des Bösen sein (Darth Vader, der verkündet, dass im Universum etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist). Als Abgesandter des Guten versucht der Herold, den Helden in dessen Auftrag zu einem Abenteuer zu überreden.

Auch der Herold kann mit anderen Archetypen verknüpft werden, beispielsweise ist der Mentor oftmals zugleich der Herold.

DER GESTALTWANDLER
Der Gestaltwandler verändert ständig seine Gestalt, nimmt neue Züge an und verwandelt sich unter den Augen des Helden: der Vertraute des Helden, der sich als Verräter oder Abgesandter der antagonistischen Kraft entpuppt (Cypher in MATRIX). Gestaltwandler sind unberechenbare Menschen mit zwei Gesichtern: die leidenschaftliche Geliebte, die sich in eine Furie verwandelt.

Eine Funktion des Gestaltwandlers ist, den Helden in die Irre zu führen oder ihn vor Rätsel zu stellen. Er ruft Zweifel im Helden wach, ob er noch auf dem richtigen Weg ist. Und er lässt den Helden zweifeln, ob er sich auf den Gestaltwandler verlassen kann oder ob er ihn betrügen wird.

DER SCHATTEN
Der Schatten ist aus meiner Sicht einer der wichtigsten Archetypen im Hinblick auf die Charakterentwicklung des Helden. Denn er spiegelt dem Helden das, was der Held selbst nicht von sich sehen will, was er in seinen Schattenbereich verdrängt hat und was er aber endlich sehen und integrieren muss, um Heilung zu erfahren. Er steht für diejenigen Aspekte des Helden, die keinen Ausdruck finden, die noch nicht bedacht oder hinterfragt wurden: Zweifel, Schuldgefühle, Versagensängste, Neigungen zur Selbstzerstörung, mangelndes Selbstwertgefühl, nicht ausgelebte Sexualität, jegliche Art von inneren Konflikten, aber auch Überheblichkeit, Machtmissbrauch, Selbstsucht.

Schatten spiegeln dem Helden das, was er selbst nicht von sich sehen will, aber endlich sehen muss, um Heilung zu erfahren.

Ein Schatten darf also nicht als etwas Negatives gesehen werden, vielmehr macht er auf etwas Wesentliches aufmerksam. Er stört zwar das Gleichgewicht, aber nur, solange wir nicht den eigentlichen Sinn seiner Botschaft erfassen. Für ihn gilt insbesondere, dass der Held seine Kraft nutzen muss, um weiter zu kommen und zu wachsen.

Die Schattenfunktion kann sowohl von antagonistischen Kräften als auch von Verbündeten übernommen werden.

Simples Beispiel: Cypher, der in MATRIX Neo sagt: „Ich weiß genau, was du denkst: Warum habe ich Idiot nicht die andere Pille genommen.“ Damit drückt er Neos Zweifel aus. Würde Neo das selbst tun, wäre es platt. Indem Cypher es tut, ist es zwar immer noch platt, aber nicht mehr so sehr.

In AMERICAN BEAUTY ist Angela Janes Schatten: Sie spiegelt Janes schwachen Selbstwert und ihre unausgelebte Sexualität.

DER TRICKSTER
Hinter dem Trickster stehen die Energien des Unfugs und der Wunsch nach Veränderung. Er drückt sich in erster Linie durch die Rolle des komischen Begleiters aus.

Seine Funktion ist, das übermäßige Ego des Helden auf ein normales Maß zu stutzen und ihn wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzubringen. Außerdem hilft er, Beschränktheiten zu erkennen und führt Tollheiten und Heucheleien vor Augen, indem er ein befreiendes und gesundes Gelächter provoziert. Sein Eingreifen hat heilsame Veränderungen zur Folge, indem er auf gefährlich aus dem Lot geratene psychische Situationen und deren Absurdität aufmerksam macht.

Eine weitere wichtige Funktion ist, dass er für Entspannung durch Komik sorgt. Insbesondere in Geschichten mit einer hohen Spannungskurve ist der Trickster deshalb wichtig. Oft hat er auch die Funktion des Katalysators, der die Entwicklung anderer Charaktere beeinflusst, sich selbst aber nicht ändert.

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