Theorie tl;dr: Über Nachkriegsdeutsche

Too long; didn’t read: Texte aus Drehbuch-, Film- und Welttheorie, kurz, knapp, bündig zusammengefasst und auf ihren Wert fürs filmschreiben hin geprüft. Heute der Essay „Das Mädchen aus dem Urwald: Über Geschlecht und Nation in einem Filmhit der 1950er Jahre“ von Dr. Michael Flitner, Geographie-Professor in Bremen (Wikipedia), aus der geographischen Revue, 7, 2005, 1/2.

In 140 Zeichen (Was ist das?):

Michael #Flitner: Um im #Nachkriegsdeutschland Erfolg zu haben, brauchte ein #Film Wildnis, Amerika, Gewalt, Haut und ehemalige #Faschisten. — Arno (@filmschreiben) 25. März 2015

In 50 Worten (Was ist das?): Liane, das Mädchen aus dem Urwald als Beispiel für den deutschen Nachkriegsfilm: Den Schund, der die Jugend zu verderben drohte; den Einfluss der amerikanischen Popkultur; die jugendliche Ablehnung alles Bürgerlichen; Geschlechterdiskussion durch weibliche Nacktheit; die Rechtfertigung von Gewalt; die Flucht vor der eigenen Geschichte; und NS-Filmemacher, die weiter Filme machten.

Die Erkenntnis: Dass die Fünfziger eine ganz schön merkwürdige Zeit gewesen sein müssen, besonders in Deutschland. Während Hollywood aus Geschlechterkampf, deutschem Kolonialismus, und dem wilden Afrika African Queen macht, entsteht bei uns aus den selben Zutaten Liane, das Mädchen aus dem Urwald (Wikipedia): Die Verfilmung eines Bild-Zeitungs-Fortsetzungsromans, adaptiert durch einen »Faschisten der ersten Stunde«, die Hauptrolle in einem Bild-Zeitungs-Wettbewerb besetzt, und massiv mit ihren fünfzehnjährigen Beinen und Brüsten beworben.

Das Zitat: Dankenswerterweise fasst Flitner selbst zusammen –

Es geht um den rechten Weg in ein Leben, das vielleicht ein wenig unbürgerlicher ist, als sich die Eltern dies wünschen, aber doch letztendlich anständig. Um junge Mädchen, die nicht ganz wissen, wo sie hingehören und auch nicht mehr jedem älteren Mann gehorchen wollen, aber schließlich doch ihren Kerl bekommen. Es geht um die Ausübung kontrollierter Gewalt, die sich zwar in einer diffusen sittlichen Überlegenheit legitimieren muss, deren Motive und Grenzen im Einzelnen aber nicht zur Diskussion stehen. Um die Rückkehr der Flakhelfergeneration aus dem Dunkel da draußen, das als afrikanischer Urwald nur noch halb so schlimm scheint und sogar durchaus verlockende Züge trägt. Es geht um das Aufbegehren der vermeintlich Geächteten. Und um die Rückkehr der jungen Bundesrepublik in den Kreis der zivilisierten Nationen, wehrhaft, aber einstweilen fern von imperialen Ambitionen.

Von besonderem Interesse ist mit Sicherheit der Drehbuchautor Ernst von Salomon (Wikipedia): Salomon schloss sich mit 16 Jahren Eberts Freikorps im Kampf gegen die unabhängigen Sozialdemokraten an, kämpfte in Lettland gegen das kommunistische Russland, putschte gegen die Weimarer Republik, schloss sich deutschen rechtsextremen Terroristen an, war an Fememorden beteiligt und half bei der Ermordung des damaligen Außenministers Walter Rathenau, verübte einen Scheinanschlag auf den Reichstag und publizierte im Rowohlt-Verlag.

Schützte später seine jüdische Lebensgefährtin und jüdische Verlagsmitarbeiter vor den Nationalsozialisten, trat heimlich der NSDAP bei und schrieb Nazi-Propagandafilme, unter anderem Carl Peters (Wikipedia). Schrieb unter Adenauer den ersten Bestseller der Bundesrepublik, in dem er die Entnazifizierungspolitik kritisierte und den Nationalsozialismus verharmloste, und die Drehbücher zu drei zweifelhaften Zweiter-Weltkriegskomödien. Engagierte sich dann gegen Atombombe und in der Friedensbewegungen.

In dem Aufbegehren gegen die bürgerliche Ordnung [in Liane], oder jedenfalls in der Pose des Aufbegehrens, konnte sich fraglos auch Salomon wiederfinden. Zumal dürfte er mit der ungerichteten Gewalt keine Probleme gehabt haben, die in diesem Zuge ausagiert wurde. „Was wir wollten, das wussten wir nicht, und was wir wussten, das wollten wir nicht. […] wir taten es“, schreibt Salomon (1930, 73) in seinem Roman Die Geächteten über seine Zeit beim faschistischen Freikorps.

Mag man nach all dieser Verwirrung etwas ratlos sein, was seine Person angeht, sind die Aussagen über das Deutschland dieser Zeit doch sehr eindeutig.

Das letzte Wort:

Für die zeitgenössischen Zuschauer dürfte das Seifenthema nicht nur die gängigen Sauberkeitswünsche wachgerufen haben, sondern im vorliegenden Kontext auch das Thema Hautfarbe, genauer die körperlich kodierte (post-)koloniale Situation. […] Weiße Haut wird dann auch zum Namen gebenden Zeichen für die Figur, die paradoxerweise qua Biologie zumindest moralisch schon zivilisiert ist, „Weißhaut“ – in [Edgar Rice] Burroughs Affensprache: „Tarzan“.

Michael Flitner: Das Mädchen aus dem Urwald. Über Geschlecht und Nation in einem Filmhit der 1950er Jahre. In: geographischen Revue, Jahrgang 7, 2005, Heft 1/2, zum Download auf geographische-revue.de.

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