Rechts, Links, Oben, Unten I

Grenzüberschreitung und raum-orientierte Stoffentwicklung für Non–linear Storytelling

Abstrakt

Die Raumsemantik oder die raum-orientierte Stoffentwicklung ist eine Methode, um narrative Projekte zu entwickeln. Die Methode ist notwendig kollaborativ und bindet alle Gewerke von der ersten Minute an in die Stoffentwicklung ein. Die Raumsemantik ist insbesondere für interaktive, VR Projekte und Games geeignet, lässt sich aber auch auf lineare Verlaufskünste anwenden.

Basierend auf Studien von Affekt und theoretischen Arbeiten von Yuri Lotman, Michail Bachtin, liefert die hier vorgestellte raum-orientierte Stoffentwicklung ein erstes Verfahren zur Stoffentwicklung für anwenderorientierte audiovisuelle Erzählung. Die Konzepte von Yuri Lotman und Michail Bachtin haben den Grundstein für einen philosophischen Ansatz gelegt, der seit den späten 1980er Jahren unter dem Label des “spatial turn” diskutiert wird, und unter anderem die Arbeiten von Michel Foucault, Julia Kristeva, Susan Stanford Friedman, Gaston Bachelard, Michel de Certeau, und Henri Lefevbre umfasst, deren theoretische Arbeiten ich noch nicht in die raum-orientierte Stoffentwicklung eingearbeitet habe. Der zweite wichtige theoretische Ansatz, der für die Raumsemantik wichtig ist, gehört zum dem Feld der Affekt Theorie und ist an dieser Stelle auch nur in einem ersten Schritt in angewandte Dramaturgie übersetzt.

Dieser Artikel erschien ursprünglich (und vollständig) auf hooplay.net. Der zweite Teil wird hier kommenden Samstag, am 25. Juni veröffentlicht (Nachtrag: Link). Wir begrüßen Sylke Rene Meyer als neue filmschreiben-Autorin. Herzlich willkommen!

I. Kontext

Interaktive userorientierte Erzählformen lösen unser bisheriges Denken in der linearen Struktur der Zeit auf. Anders als in den filmischen Verlaufskünsten, entstehen die digital narratives erst durch den Gebrauch. Der User, anders als der Zuschauer, erspielt sich die Erzählung, gestaltet mit. Der User betritt eine Storyworld, und ist an objektive Zeitvorgaben nicht gebunden. Die Autorenerzählung macht hier Angebote, die der Spieler aber nicht wahrnehmen muss. Das Game, das Medium des 21. Jahrhunderts ist also nicht mehr zeitbasiert wie der Film, sondern raum-basiert.

Deshalb sind in narrativen Spielen zeitliche Markierungen selten. Wir markieren Raum in einem narrativen Spiel oft mit der Frage, „wo“ wir im Spiel sind. Es ist eine Frage, die gleichzeitig nach Raum und Zeit fragt, und die oft allein durch Raum beantwortet wird. Wir fragen einen Spieler, wo er gerade ist, und wenn er antwortet: zum Beispiel im Wasserkeller wissen dadurch auch auf welcher ​​zeitlichen Ebene er sich im Verlauf der Geschichte befindet.

Was folgt nun daraus für die Ausbildung von zukünftigen Drehbuchautoren und Autorinnen? Unser Arbeitsfeld erweitert sich. Die alten Medien werden um die neuen erweitert, aber sie bleiben bestehen. Auch hier verlasse ich mich gern auf Marshall McLuhan, dessen Analyse belegt, dass kein Medium jemals untergeht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Film verpöntes Tingeltangel, mit dem ernsthafte Künstler, nichts zu tun haben wollten und wurde doch sehr schnell zur ästhetisch und erzählerisch zur wichtigsten Kunstform. Der Roman beispielsweise, wie ihn Flaubert und Balzac geschrieben haben, ist mit dem Film nicht untergegangen, sehr wohl aber entwickelte sich die Romanform unter dem Einfluss des Films radikal fort. Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz von 1929 zum Beispiel wäre wohl ohne den Einfluss des Films weder inhaltlich noch formal so geschrieben worden.

In ähnlicher Weise denke ich, werden die digital narratives die Filme einholen. Wir Drehbuchautoren werden auch Story-designer sein – transmediale Erzähler. Wir werden also weiterhin für Fernsehen und Kino arbeiten, aber auch zunehmend für serielle und interaktive Erzählformen. Und so wie der Film Döblin beeinflusst hat, wird auch das räumliche Erzählen des neuen Mediums Games, die vorhergegangenen Medien herausfordern und verändern. Ich glaube, dass die Raumsemantik uns Storyteller nicht nur beim Schreiben von digitale narratives und games begleiten wird, sondern auch beim Entwickeln von Filmen und Drehbüchern für das 21. Jahrhundert – nicht um die zeitbasierte lineare Dramaturgie zu überschreiben, sondern um sie zu ergänzen und in den neuen Erzählformen künstlerische Möglichkeiten gewinnen.

Dabei kann uns eine Theorie des räumlichen Erzählens helfen, die eigentlich schon recht alt ist. Die Denkschule auf die ich mich beziehe, entwickelte sich an den Außengrenzen eines Imperiums, marginalisiert, verboten, fast im Geheimen und vielleicht gerade deshalb ihrer Zeit voraus, ist sie entstanden in der sowjetrussischen Provinz.

Der erste Denker der Peripherie, den ich hier kurz vorstellen möchte, ist der 1922 geborene Yuri Lotman. Lotman graduierte mit gerade mal 17 Jahren und exzellenten Noten von der Universität in Leningrad. Der junge Überflieger wurde aber als Jude nicht im Zentrum des Herrschaftsraumes zur Promotion zugelassen, sondern musste nach Estland an die kleine Uni in der Stadt Tartu gehen. Dort bliebt Lotman für den Rest seines Lebens und deshalb nennt man sein theoretisches Werk die Tartu-Moskau Semiotische Schule.

Bei Lotman steht nicht die zeitliche Struktur der Erzählung im Vordergrund, sondern die räumliche Organisation. Ein Raum ent- und besteht in Abgrenzung zu einem anderen Raum, d. h. durch die Differenz, die insbesondere an der Grenze zwischen diesen beiden Räumen sichtbar wird. Die Raumgrenze wird so zum wichtigsten topologischen Merkmal, indem sie den Text (bzw. dessen Gesamtraum) klar in (mindestens) „zwei unterschiedliche Teilräume“ teilt. Diese Räume unterscheiden sich nach Lotman auf verschiedenen Ebenen: Sie sind zunächst topologisch gegensätzlich – der eine Raum ist zum Beispiel hoch, der andere tief. Auf der zweiten Ebene definiert Lotman Räume nicht nur durch ihre Abmessung und ihren Ort, sondern auch über ihren Inhalt, also Figuren, Zustände, Funktionen. Diesen Inhalt nennt Lotman die semantische Eigenschaft des Raums. So werden den Räumen unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet. Der eine Raum ist zum Beispiel gut, der andere böse. Und diese semantisch aufgeladene topologische Ordnung wird durch topographische Gegensätze der dargestellten Welt konkretisiert: im Beispiel hier ergibt sich daraus der deutsche Heimatfilm: Hoch/tief/gut/böse/‹Stadt/Berglandschaft›.

Der andere Außenseiter des Raumes ist Michail Bachtin. Er wurde 1929 von Stalin nach Kasachstan verbannt, wo er mit Unterbrechungen bis zu seiner Pensionierung 1961 als Lehrer arbeitete. Seine Arbeiten entstanden zum großen Teil in den 1920er und 1930er Jahren, aber richtig bekannt wurden sie erst in den 1960er Jahren vor allem durch die Rezeption in Frankreich. Bachtin uns eine Fülle von Diskursmaterial hinterlassen, aus dem ich an dieser Stelle nur einen Aspekt hervorheben möchte: seinen Begriff des Chronotopos. Also Chronos von Zeit und Topos von Raum. Der Zusammenhang von Raum und Zeit konstituiert nach Bachtin die Handlungsmöglichkeiten der Figuren. Der Raum gliedert und dimensioniert die chronologische Bewegung der Erzählung und umgekehrt erfüllt die Zeit den Raum mit Sinn. Der Chronotopos bildet sozusagen die storyworld.

Dabei ist es oft so, dass die Zeit wichtiger wird, je beengter der Raum ist; und umgekehrt je weniger wichtig die Zeit ist, desto größer wird der Raum. Im road movie zum Beispiel dehnen wir Raum und fahren über weite Strecken, aber die Dauer der Reise spielt oft nur eine untergeordnete Rolle. In Gefängnisfilmen dagegen verdichten wir den Raum – auf die Zelle- und die Zeit spielt eine ganz hervorragende Rolle: 12 years a slave, lebenslänglich. Diese Eigenschaft des Chronotopos, machen sich zum Beispiel auch Designer von Narrativen Spielen zu Nutze: In beengten Räumen ist es einfacher, die Autorerzählung durchzusetzen, weil die Bewegungsmöglichkeiten des Spielers eingegrenzt sind. Er kann eben endlos durch die Gamelandschaft wandern.

Diese topologische Dramaturgie könnte so– eine weitere Möglichkeit sein– Filmstoffe zu entwickeln, oder einen alternativen Blickwinkel auf das Material zu werfen – ich möchte betonen: ohne die klassischen Drehbuchdramaturgien zu verwerfen. Aber ich glaube, dass für uns Autoren und Filmemacher die Ansätze dieser russischen Schule ungemein hilfreich sein könnten, weil sie es uns erlauben, Geschichten aus der Beziehung der Figur zum Raum zu entwickeln –und so eine Form von Dramaturgie zu erfinden, die eher dem Spiel dem neusten Medium entspricht. Durch diese -sozusagen mediale Bestäubung könnte die kausal-lineare Dramaturgie der zeitbasierten Erzählstrukturen erweitert werden.

Hinzu kommt, dass diese topologische Dramaturgie neben den Autoren, die ja von der Schrift, also der Linearität herkommen, auch die anderen Gewerke sinnvoll in die Stoffentwicklung mit einbezieht, denn gerade die nicht-schreibenden Gewerke bringen ihre eine eigene spezifische Raumkompetenz in den Prozess mit ein. Die Ausstattung und production designer sowieso, die Kamera, die den Raum auflöst, die Regie mit der Führung der Figur im Raum, die Editoren, die den Spielraum montieren und so fort. Der Autorenbegriff würde in dieser Form der spiel- und raumorientierten Filmentwicklung alle Gewerke umfassen und notwendig interdisziplinär und kollaborativ sein.

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