thf: Werk ohne Autor

Human Factor Kurzanalysen untersuchen die dramaturgischen Prinzipien aktueller Kinofilme hinsichtlich der fünf erzählerischen Grundfragen, wie sie im Buch „Dimensionen filmischen Erzählens“ von Roland Zag (Herder-Verlag, Freiburg) beschrieben werden. Daraus ergibt sich ein abschließendes Gesamtbild für die mögliche Marktresonanz des Films. Aktuelle Analysen erscheinen wöchentlich auf the-human-factor.de. Hier: Werk ohne Autor, B+R: Florian Henckel von Donnersmarck. Warnung: ‚Human Factor Kurzanalysen’ können Spoiler enthalten!

Erzählabsicht

Die ‚Botschaft’ des Films lässt sich in etwa so umschreiben: ‚Kunst kann nur gelingen, wenn sie von einer inneren Wahrheit des Künstlers getragen wird. Diese Wahrheit liegt in der Biografie von Künstlern, gleichgültig, ob diese das wissen und verstehen oder nicht.‘

KURT (Tom Schilling) bleibt als Künstler in Ost- wie Westdeutschland solange orientierungslos, wie ihm bestimmte Zusammenhänge seiner Familiengeschichte unklar sind. Seine geliebte Tante ELISABETH (Saskia Rosendahl) wurde ausgerechnet von seinem Nazi-Schwiegervater Professor SEEBAND (Sebastian Koch) als ‚lebensunwertes Leben’ in die Gaskammer geschickt. Sobald sich Kurt dieser Zusammenhang zumindest unbewusst erschließt, findet er zu seiner Wahrheit und damit zu seiner Kunst.

Diese Erzählabsicht wird mit großer Ernsthaftigkeit und Konsequenz verfolgt; sie richtet sich allerdings nur an ein begrenztes Zielpublikum, welches für Fragen nach den Zusammenhängen zwischen Kunst und Wahrheit offen ist.

Zugehörigkeiten

Die vielleicht wichtigste, wenngleich sehr innerliche Beziehung des Films besteht zwischen dem Kind Kurt und seiner angeblich ‚schizophrenen’ Tante. Indem diese nie vergessen und die Beziehung bis ins allerletzte Bild sehr stark bespielt wird, ergibt sich hier eine stabile emotionale Bindung, die dem Publikum hilft, die langen Strecken des Films zu überstehen. Auch Kurts Beziehung zu seiner Frau ELLI (Paula Beer) wird durch keinerlei Illoyalität gestört, was allerdings irgendwann auch recht spannungsarm wirkt: Elli hat nicht viel zu sagen.
Der Antagonismus liegt zwischen ‚Wahrheit’ und ‚Ideologie’.
Die beiden äußerlich intensivsten Beziehungen für Kurt ergeben sich zu zwei Mentoren, welche antagonistisch angelegt sind: hier der von üblen rassistischen Motiven getriebene Schwiegervater, der nicht einmal davor zurückschreckt, seine eigene Tochter durch eine erzwungene Abtreibung unfruchtbar zu machen; dort der undurchschaubare, aber letztlich positive Professor VAN VERTEN (Oliver Massucci). Von ihm geht jener Anstoß aus, der Kurt zu seiner Wahrheit finden lässt. Erwähnenswert noch Professor GRIMMA (Hans-Uwe Bauer) in Ost-Berlin, welcher ebenfalls als wohlmeinender Mentor auftritt, jedoch, anders als van Verten, aus ideologischen Gründen die Existenz einer ‚inneren Wahrheit’ als bourgeois und dekadent ablehnt und deshalb Kurt letztlich doch keine Hilfe bieten kann. Gleichwohl hört Kurt nie auf, sich immer wieder um die innere Wahrheit zu bemühen. Diese Intensität des Kampfes hilft der Wahrnehmung.

Einschränkend wäre zu bemerken, dass Kurt eigentlich selten wirklich benachteiligt ist. Seine Situation ist eher privilegiert. Dadurch entsteht mitunter ein Eindruck von unbeteiligter Passivität.

Wertekonflikt(e)

Der Antagonismus liegt zwischen ‚Wahrheit’ und ‚Ideologie’. Da ist zum einen die platte Kunstfeindlichkeit der Nazis. Unter diesen Bedingungen ist echtes Arbeiten als Maler nicht möglich. Nach dem Krieg gerät Kurt in den Bann des Sozialistischen Realismus, der jede Innerlichkeit ablehnt und so ebenfalls keine Lösung bietet. Doch auch die Konfrontation mit den bundesdeutschen Kunstströmungen der 60er-Jahre ist für Kurt zunächst nur eine ideologische Überforderung – solange er noch nicht Zugang zu den unbewussten Zusammenhängen seiner Biografie gefunden hat.

Eine weitere Konfliktspannung liegt – allerdings lange Zeit nur für die Zuschauer spürbar – in der Tatsache, dass Kurt, ohne es zu wissen, familiär an den Mörder seiner Tante gebunden ist. Dies ist zwar ein sehr starkes Motiv, hat aber eigentlich mit dem künstlerischen Spannungsfeld nicht viel zu tun. Diese Zweigleisigkeit bestimmt die eigenartige Wirkung des Films, in dem Politik, Zeitgeschichte und Kunst eine sehr ungewöhnliche, scheinbar unauflösbare, aber auch anfechtbare Verbindung eingehen.
Kurt kann erst zu seiner Kunst finden, indem er sich von allen Verboten frei macht.

Regelwerk

Die Handlung durchläuft drei sehr unterschiedliche Regelwerke deutscher Geschichte: die hysterische Ablehnung der künstlerischen Moderne, gepaart mit dem Kampf gegen ‚Lebensunwertes Leben’ durch die Nazis; die strikten Verbote, wie sie in der DDR gepflegt wurden; und deren Gegenteil, nämlich die geradezu manische Freiheitsdrang der BRD, welcher letztlich auch wieder in einem Verbot mündet: nämlich dem, konventionell zu sein. Allen drei Regelwerken widmet der Film sehr viel Aufmerksamkeit. Kurt kann erst zu seiner eigenen Kunst finden, indem er sich von allen Verboten frei macht und deren Regeln überschreitet. Die Deutlichkeit, mit der der Film sich mit dem Regelwerk seiner Zeit auseinandersetzt, hilft der Wirkung enorm.

Erzählordnung/Perspektivwechsel

Der mehr als dreistündige Film wechselt mehrfach die Perspektiven und erlaubt sich diverse Abschweifungen. Dennoch ist eine Dreiteilung ganz klar:

Die Exposition von Akt I besteht in der Schilderung von Kurts Kindheit, welche von der Schilderung des Schicksals von Tante Elisabeth dominiert wird.

Nach dem Krieg liegt die Konfliktspannung von Akt II in der Frage, ob und wenn ja wie Kurt als Künstler zu seiner eigenen inneren Stimme findet. Dieser Abschnitt ist in sich wiederum zweigeteilt: die Ereignisse in der DDR kreisen stark um die Liebesbeziehung zu Elli; die Szenen in Düsseldorf konzentrieren sich ganz auf die Kunsthochschule. Immer wieder wird klar, wie sehr Kurt um seine innere Wahrheit ringt, sie aber vorläufig nicht findet.
Das Unberechenbare der Kunst verschwindet hinter ihrer rationalen Begründbarkeit.
Der Perspektivwechsel zu Akt III wird eindeutig markiert: Als die Zeitungen die Verhaftung von Prof. Seewands ehemaligem Chef verkünden, ist klar, dass Kurt die Zusammenhänge, die wir Zuschauenden längst kennen, nun selbst zu ahnen beginnt. Von nun an entsteht sein eigentliches ‚Werk’, auch wenn Journalisten behaupten, dieses sei ein ‚Werk ohne Autor’. Akt III dient also keiner anderen Absicht als der, zu zeigen, wie aus der Intuition autobiografischer Wahrheiten ein künstlerischer Impuls entsteht.

Gesamtbild

„Werk ohne Autor“ vermittelt seine Erzählabsicht mit großer Klarheit. Das verschafft dem Film ein Alleinstellungsmerkmal. Zudem liefert das Werk die bildgewaltige und selten gesehene Beschäftigung mit drei extrem gegensätzlichen Epochen deutscher Geschichte.

Zugleich liegt gerade in der Eindeutigkeit der Aussage auch ein innerer Widerspruch. Einerseits wird der künstlerische Schöpfungsakt gefeiert. Indem der Film sich aber darauf festlegt, dass künstlerische Arbeit auf autobiografischen Ereignissen beruht, wird eben dieser schöpferische Akt auch wieder entzaubert. Das Unberechenbare der Kunst verschwindet hinter ihrer rationalen Begründbarkeit. An diesem Punkt wird die Aussage anfechtbar.

Zugleich ist die Zielgruppe doch limitiert. Das Bildungsbürgertum, welches sich für die hier gestellten Fragen interessiert, ist zwar zumindest in Deutschland gewiss groß; aber es dürfte doch auch große Schichten von Kinozuschauern geben, die sich für die Fragestellungen dieses Films kaum erwärmen können.

Insofern dürfte „Werk ohne Autor“ nicht unbedingt zum Publikumsliebling werden. Indem der Film bei der Oscarverleihung 2019 ebenfalls nicht berücksichtigt wurde, dürfte er nicht allzu nachhaltige Spuren in der deutschen Kinolandschaft hinterlassen.

München, 15.10.2018 (Revision: 18.4.2019)
Roland Zag

Ein Kommentar

  1. Michael Füting

    Roland Zags Systematik funktioniert sehr gut. Sie hilft enorm beim Analysieren. Es ist mehr Sozial- als Individualpsychologie! Das ‚Urteil‘ ist glasklar und empathisch. Es werden nicht Noten verteilt, sondern Erfolgsmöglichkeiten reflektiert.

    2. Mai 2019

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