FSE18: Kino als moralische Anstalt?

Eine zweite Podiumsdiskussion (s. FSE18: Raus aus dem Malestream) der diesjährigen VeDRA-tagung FilmStoffEntwicklung, »Kino als moralische Anstalt? Der deutsche Film zwischen Tabubruch und Moral« entzündet sich am deutschen Film Styx. Zu Gast sind Autorenfilmerin Nora Fingerscheidt und Produzent Jonas Weydemann anlässlich des gemeinsamen Projektes Systemsprenger, Filmkritiker Matthias Dell, und die Dramaturgin und Leiterin des BKM Drama Department Julia Grünewald. Grünewald hat auch einen Hintergrund in der Philosophie; Daniel Reich, Filmproduzent und ausgerechnet Theologe (vermutlich eine tolle Wahl), war eingeladen, kann aber leider nicht teilnehmen. Moderatorin ist Dramaturgin Birgit Wittemann (VeDRA). Zumindest im Gespräch immer wieder anwesend ist immer wieder Georg Seeßlen, auf dessen Essay »Kino: Das moralische Dilemma« sich Grünewald und Wittemann wiederholt beziehen.

Styx also. Ärztin Rike trifft beim Segeln auf hoher See auf ein havariertes Flüchtlingsschiff, Hilfe kommt nicht, ihr ist es verboten einzugreifen, doch sie rettet Kingsley, der es aus eigener Kraft zu ihrem Boot schafft. (Notiz: Ich selbst habe den Film noch nicht gesehen, muss mich also auf Inhaltsangaben und die Einschätzung der Diskussionsteilnehmer beschränken.) Das Thema ist schnell gesetzt, in seiner Filmkritik auf Spiegel Online hat Matthias Dell geschrieben, der Film sei »überflüssig«, das muss provozieren. Im Gespräch schränkt er ein: »überflüssig für den Diskurs«, denn die Fragen nicht, die der Film stelle, würden nicht beantwortet. Grünewald provoziert zurück: »Man könne einen Film nicht dafür verantwortlich machen, dass er Dells Fragen nicht beantworte.« Wittemann weist auf Seeßlens Essay hin, im moralischen Kino gehe es darum, Unsicherheit auszuhalten:

Das Kino als moralische Anstalt wider Willen gibt ja keine Antworten, es bietet den Fragen den Raum zur Entfaltung. Und wenn das Kino den Menschen wieder als ein Wesen begreift, das nicht nur getröstet und betäubt werden will, sondern nach dem richtigen Handeln fragt, selbst angesichts der konkreten Unauflösbarkeit des Dilemmas, dann tut es etwas für die Freiheit.
Georg Seeßlen: Kino. Das moralische Dilemma. epd-film.de.

Sowohl Grünewald als auch Dell sind sich zumindest in ihrer Ablehnung moralisch zu einfacher Filme einig: Für Grünewald sind das nur solche, die zu einfache bzw. zu einfach Antworten finden, für Dell auch die, die in der Frage verharren. Auch Grünewald beklagt eine »Dramaturgie der Verstopfung«, bei der sich Figur und Film schwer tun, das gewählte Thema überhaupt zu bearbeiten. Aber diese Bearbeitung müsse, so verstehe ich sie, nicht notwendig zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Weydemann äußert sich später ähnlich: moralische Komplexität entstehe in der Auseinandersetzung. Auch hieran fühle ich mich, wie auch in der vorhergehenden Podiumsdiskussion, als es kurz um gesellschaftliche Strukturen geht, später erinnert, als Roland Zag seine Dramaturgie der Systeme vorstellt: Er postuliert eine moderne Unübersichtlichkeit, die sich auch im Erzählen des 21. Jahrhunderts widerspiegeln müsse. Der Artikel erscheint am Donnerstag.

»Kino als moralische Anstalt? Der deutsche Film zwischen Tabubruch und Moral.« FilmStoffEntwicklung 2018, Foto: Andre Wunstorf
FilmStoffEntwicklung 2018, Foto: Andre Wunstorf

Dell stört sich an einer gesellschaftlichen Abwertung des moralischen Erzählens, ja moralischen Nachdenkens, an sich: Filme würden schnell als »moralisierend« bezeichnet; Menschen, für die moralische Fragen, die keine Fragen des Eigennutzes sind, eine Rolle spielen, als »Gutmenschen«. Es würde gerne, auch in der Filmentwicklung und der Filmkritik vor einem »moralischen Zeigefinger« gewarnt, aber welcher Film habe überhaupt einen solchen? Grünewald hat zumindest einen Hinweis: Auch gut geschriebene Filme wüssten stets, wer gut und böse, richtig oder falsch handle, und welche Erfahrungen und Motive es seien, die eine Figur falsch handeln ließe. Filme mit einem starken moralischen Dilemma hingegen blieben lange unentschieden, weil die Figur unentschieden bliebe, sodass auch das Publikum unentschieden bleiben müsse.

Nora Fingerscheidt stellt ihren Film Systemsprenger vor, der 2019 in die Kinos kommen soll. Er erzähle die Geschichte eines Kindes, dass durch alle sozialen Netze fällt, und vor dessen Aggression nicht nur jeder Pädagoge, sondern auch jede pädagogische Struktur kapituliert. Der Begriff sei ihr zum ersten Mal während eines Dokumentarfilms in einem Obdachlosenheim begegnet, in das, wenn ich mich recht erinnere, ein vierzehnjähriges Mädchen einzog. Die Erwachsenen im Film müssen ihre Arbeit für den Jungen gegen ihre Arbeit für andere Kinder, die eigene emotionale und wohl auch physische Gesundheit abwägen. Die Frage: Kann man denn ein Kind aufgeben? Im Gespräch kommen Fingerscheidt und Produzent Weydemann auf eine bisher nicht berücksichtigte Notwendigkeit des moralischen filmischen Erzählens: bezahlte Zeit. Fingerscheidt habe die Arbeit am Film schon im Studium begonnen, und dadurch glücklicherweise diese Zeit und nötige Freiheit von wirtschaftlichem Druck gehabt. Das gelte aber kaum für andere Produktionen. Vielleicht lässt sich ihr darin enthaltener Appell so formulieren: Wenn Film, wie Seeßlen sagt, etwas für die Freiheit tun soll, muss die Filmwirtschaft etwas für die Freiheit ihrer Autoren tun.

Für das Ende dieses Artikels habe ich mir das Ende im Film aufgehoben, denn Grünewald vermisst im deutschen Film den dritten Akt. Wenn die Figur denn dann zu einer richtigen Entscheidung gefunden habe, müssten auch die Konsequenzen daraus gezeigt werden, und zu viele Filme verzichteten bequem darauf. Hier begebe ich mich kurz mit in die Diskussion, denn Grünewalds Beispiel sind »Opferfilme«, deren zweiter Wendepunkt der Befreiungsschlag sei. Während dessen kurzfristige positive Wirkung für die Figur in der Entscheidung implizit sei, würden es die Filme vermeiden über die langfristige Wirkung, etwa auf das soziale Netzwerk, von dem sich die Figur radikalisiert und emanzipiert hat, nachzudenken. Bei der letzten FilmStoffEntwicklung, 2016, hatten im selben Raum zum Film Nebel im August meine Überlegungen zum Opferfilm begonnen.

Leserinnen und Leser, die am Tag der Dramaturgie andere Veranstaltungen besucht oder einen anderen Eindruck von den geschilderten Veranstaltungen bekommen haben, sind herzlich eingeladen eigene kurze oder lange Artikel zu ihren Erlebnissen, Begegnungen und Erfahrungen bei der diesjährigen FilmStoffEntwicklung einzureichen! Einfach per Mail an schreiben@arno.ruhr. Ein Einblick in die Veranstaltungen, die ich nicht besuchen konnte (etwa das Erzählen an Normalitätsgrenzen), würde mich freuen.

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