Erster Eindruck: Bird Box

Weil dramaturgische Analysen sehr zeit- und arbeitsaufwändig sind (und deshalb viel Geld kosten), und wir das nicht immer für diesen Blog leisten können, gibt es den Ersten Eindruck: Aktuelle Filme aus dem Kino und jetzt (neu!) auch aus dem Video on Demand, mit dramaturgischem Blick geschaut und vorgestellt. Unvollständig und selten detailliert, aber dafür ehrlich, spontan und aufs Wesentliche konzentriert. Heute: Bird Box, Buch: Eric Heisserer.

Eine Frau flieht mit zwei kleinen Kindern zu einem Boot, sie tasten sich vorwärts, denn ihre Augen haben sie sich verbunden. Das muss so sein, sonst lauert der Tod. Die Frau steuert das Boot in die Mitte des Flusses, dann lassen sie sich treiben. Rückblenden erzählen von der Apokalypse: Wie die Menschen begannen unsichtbaren Schrecken zu sehen und sich daraufhin umbrachten. Wie die wenigen Überlebenden herausfanden, dass es hilft, die Häuser zu verdunkeln oder sich draußen die Augen zu verbinden. Wie sie herausfanden, dass schizophrene Kranke gegen die unsichtbaren Schrecken immun zu sein scheinen, dafür aber begonnen haben, gesunde Überlebende zu zwingen, diese Schrecken zu sehen. Die Frau und die beiden Kinder sind auf dem Weg an einen sicheren Ort, mit dem sie kurz Funkkontakt hatten. Nur ob sie ihn finden können ist ungewiss, und wie sie die Stromschnellen überstehen, bei denen eines der Kinder wohl wird hingucken müssen: das eigene, oder das fremde. Denn selbst schauen, das darf sie nicht, die Frau: stirbt sie, sind auch die Kinder verloren.

Wer filmschreiben verfolgt, weiß vermutlich, wie gern ich über Erzählungen spreche, in denen Figuren nicht aus eigener Kraft gewinnen können. Weil uns solche Erzählungen nämlich fremd geworden sind, ob all der Helden, die über ihr eigenes Glück oder Unglück entscheiden und wirksam sind, wenn sie wirksam sein wollen. Dass es auch anders geht, dass Figuren auch hilflos gegenüber einem unüberwindbaren antagonistischen System sein und bleiben können, wie der Einzelne in der Dystopie (Children of Men), das Liebespaar in der Katastrophe (Titanic), das Kind im Bürgerkrieg (Pan’s Labyrinth) oder der jüdische Vater im KZ (Das Leben ist schön), sehen und verstehen wir viel zu selten. Die Endzeit scheint dafür eine geeignete Zeit, ein geeigneter Ort, ein geeignetes Genre zu sein: Die Apokalypse ist geschehen, die Menschheit ist entmachtet, ist hilflos. In The Road kann man eindrucksvoll lesen (Cormac McCarthy) oder sehen (John Hillcoat, Joe Penhall), wie tödlich allein die Verzweiflung eines Vaters sein kann, der weiß, dass er seinen Sohn nicht vor der Welt (bzw. den Folgen ihres Untergangs) retten kann.

Bird Box ist da ähnlich: Gegen die Schrecken und die psychisch Kranken hilft nur die ständige Flucht und die Hoffnung auf einen sicheren Ort, wie ihn die Drei am Ende tatsächlich finden. An ein Überwinden des Antagonismus, einen Sieg über den Schrecken ist nicht zu denken. Dass sie den schützenden Ort zuletzt finden muss als Deus Ex Machina verstanden werden: Ihr Weg dorthin ist eine Verzweiflungstat, die Erfolgschancen sind so gering, dass der eintretende Erfolg kaum als Konsequenz ihres Tuns begriffen werden kann. Anders als bei Children of Men, Titanic, Pan’s Labyrinth, Das Leben ist schön oder The Road gibt es jedoch zuvor kein quasi-religiöses Opfer des Lebens der Beschützerin auf dem Altar des Gottes aus der Maschine für die beiden kleinen Leben, die sie beschützt: Nur der Tod des Ziehvaters in den Flashbacks kann vielleicht so begriffen werden, die emotionale Wirkung ist aber entsprechend schwach.

Das ist, was ich als eine der dramaturgischen Schwächen von des Films verstehen würde. Die Genrekonvention (wenn man bei Filmen über Wirkungslose von einem Genre sprechen kann), das Opfer der Beschützerin, hat nämlich einen bestimmten Sinn: Die Beschützerin hat erst mit dem Opfer ihres Lebens im wahrsten Sinne des Wortes alles für den Schutz dessen, was sie liebt, getan. Obwohl eine tatsächliche, rationale Kausalität nicht besteht „verdient“ sie sich damit die Rettung der Beschützten – deshalb sprach ich zuvor von einer Religiosität dieser Erzähltechnik. In Children of Men stirbt deshalb Theo, in Titanic Jack, in Pan’s Labyrinth die diesweltige Ofelia, in Das Leben ist schön Vater Guido, in The Road der Mann. Bei Bird Box fehlt dieses Opfer, hier kommt Rettung „unverdient“, oft fällt uns nur dann und dadurch der Deus Ex Machina als Deus ex Machina auf.

Etwas, das mir ebenfalls als dramaturgische Schwäche vorkommt, ist die benannte Wirkungslosigkeit, die viel zu oft fehlt. Denn eine Wirkung innerhalb des sehr kleinen Rahmens, indem sie möglich sein könnte, ist tatsächlich da: Die Auseinandersetzung mit Problemen und Antagonisten gelingt immer wieder. Ich bin mir unsicher, inwiefern eine Erzählung ganz darauf verzichten könnte, ähnliches geschieht in den anderen genannten Filmen nämlich auch. Interessant wäre darauf zu achten, wie dort das Verhältnis ist von Anstrengungen, die erfolgreich sind, zu solchen, die es nicht sind. Denn erst Anstrengungen, die tatsächlich wirkungslos bleiben, thematisieren auch Wirkungslosigkeit. Ein Beispiel dafür wäre ein Abschnitt aus Der Pianist, in dem der Protagonist sich intensiv um die Arbeitserlaubnis für seine Familie bemüht, in der Hoffnung, das würde sie vor dem Abtransport ins KZ retten. Die Hoffnung trügt, die Anstrengung erweist sich als vergeblich, der Abtransport geschieht. Es wäre sowieso dramaturgisch stärker, wenn die Entscheidung, welches der beiden Kinder sein Leben riskieren muss, tatsächlich gefällt würde. Es wäre im Sinne des Endzeit-Themas Wirkungslosigkeit möglicherweise zusätzlich stärker, wenn das todgeweihte Kind überleben und aber das gerettete sterben würde.

Ein drittes dramaturgisches Problem ist zunächst struktureller Natur: Bird Box erzählt neben der postapokalyptischen Flucht die Apokalypse in Rückblenden. Es sind aber nicht die Figuren, die in der Zeit zurückblicken, wie wir es etwa aus anderen Flashback-Erzählungen wie Forrest Gump oder Slumdog Millionaire kennen, sondern das Publikum. Und während andere Flashback-Erzählungen, in denen die Figur in die eigene Vergangenheit zurückblickt, mit der schweren Entscheidung vor dem Ende des zweiten Aktes beginnen, um sich dann aus ihrer Vergangenheit für diese Entscheidung zu informieren, beginnt der Film weit vor dieser Entscheidung (Welches Kind soll sterben um das andere und mich zu retten?). Und tatsächlich: Es gibt gar keine Lehre aus der Vergangenheit, die sich auf die Entscheidung zwischen den Kindern beziehen lässt. Spätestens hier verlieren die Rückblenden ihre dramatische Funktion, sie sind nur noch Exposition für das Publikum. Und das weist auf ein inhaltliches Problem: Es braucht einen erzählerischen Wert der Apokalypse für die Postapokalypse. Weil der für das gegenwärtige Drama oft fehlt, sparen viele Endzeit-Erzählungen die aus. Bird Box tut das icht, und zum eigenen Nachteil.

Das macht Bird Box zu einem dramaturgisch schwachen, unbefriedigenden Film: Die wichtige Entscheidung zwischen den beiden Kindern wurde eröffnet, aber nicht gefällt, sondern beschummelt. Der Konflikt wurde sowohl innerlich (Ist es richtig, das fremde Kind für das eigene zu opfern?) als auch äußerlich (Wehrt sich das fremde Kind gegen meine sichere Entscheidung für seinen Tod?) und im emotionalen Netzwerk (Wie findet es mein Kind, wenn ich das andere für sein Leben opfere?) nicht verhandelt. Die Flashbacks können trotz vieler überflüssiger Informationen nichts zu dieser Entscheidung beitragen. Schummeln scheint mir hier das richtige Wort: Dem Publikum wurde ein Drama angekündigt, das nicht stattfand. Die existenzielle Erfahrung wurde einfach ignoriert. Jenseits von dem viralen Experiment, die eigenen Augen zu verbinden und sich so zurecht zu finden, bleibt Bird Box wirkungslos. Das vielleicht schlimmste Urteil über die Qualität einer Geschichte.

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